Das Geheimnis am goldenen Fluß
schon in ihren allerfrühesten Kindheitserinnerungen hatte ihr Vater sie ermahnt, ihren Körper vor den anderen zu verbergen. Er hatte ihr eingeschärft, dass sie niemanden herausfinden lassen dürfe, wer sie war.
»Der Lung-Hu-Kult ist Wahnsinn«, hatte er gesagt. »Wenn du die Menschen in Jou P’u T’uan wirklich liebst, wirst du eines Tages verstehen, dass das, was Ko T’ung und deine Vorfahren hier aufgebaut haben, zerstört werden würde und künftige Generationen ruiniert wären, wenn du deine Identität preisgäbest.«
Die Bedeutung seiner Worte lastete noch heute auf ihrer Seele: Einfach ich selbst zu sein würde alle künftigen Generatio nen ruinieren. Sie hatte das Versprechen gehalten, das sie ihrem Vater gegeben hatte. Niemand wusste es.
Sie lag im heißesten Becken, und die duftende Seife zerfloss und rann träge über ihre großen runden Brüste und die sanfte Wölbung ihres Bauches. Wie gut sich das heiße Wasser anfühlte, und wie lebendig die Berührung ihrer eigenen Fingerspitzen war, wenn sie an Tree dachte. Trotz der feuchten Hitze bekam sie eine Gänsehaut, und ihre Brustwarzen richteten sich auf. Ihre Hände strichen über ihren vollen Busen und glitten weiter nach unten. Fasziniert registrierte sie das beinahe schmerzende Begehren, das unterhalb ihres Bauchnabels aufwallte und von dort ihren ganzen Körper und ihre Seele durchfuhr und sowohl den weiblichen wie den männlichen Teil in ihr fast zum Zerbersten brachte. Sie fühlte sich, als ob sie schreien könnte und ihr Geist dann über den Rand des Tals bis zu den Sternen emporgeschleudert würde. Ihr ganzer Geist. Vollständig. Nicht nur seine feminine Seite.
Oh, Tree. Sie schloss die Augen, seufzend wie Gras im Wind, und träumte in Grün.
Abrupt schlug sie die Augen auf und betrachtete ihre Umgebung. Ich darf mich nicht von meinen Fantasien verleiten lassen. Das macht mein Leid nur schlimmer. Ein schmerzender Kloß lag ihr im Hals. Tree will mich nicht. Die Blicke, die sie mir zuwirft, sind wie Giftpfeile. Oh, wie soll ich meine Sehnsucht bloß ertragen, wenn ich weiß, dass sie mich niemals lieben wird?
Vor lauter Verzweiflung schwammen plötzlich Tränen in ihren Augen, doch sie biss sich auf die Unterlippe und ver bot sich zu weinen. Ich muss mir einen Schutzschild um mein Herz bauen, sonst werde ich mit Sicherheit entdeckt werden. Dann gestand sie sich ein, dass sie in Momenten wie diesen, wenn ihre Einsamkeit unerträglich wurde, entdeckt werden wollte, damit die Last ihres Geheimnisses endlich von ihr wich.
Beschämt ließ sie den Kopf sinken. K’un-Chien, du bist ein Narr und eine Gefahr für dein Volk.
Kobaltablagerungen auf dem Grund des Beckens ließen das klare Wasser grün schimmern. Die Intensität der Farbe half K’un-Chien nicht, Tree Summerwoods Augen zu vergessen.
17
Tree und Mason schlenderten über den belebten Marktplatz. K’un-Chien folgte wenige Schritte hinter ihnen. Tree überragte den Menschenpulk um Haupteslänge; nur K’un-Chien und Mason reichten an ihre Größe heran, wobei K’un-Chien zwei Zentimeter kleiner als Mason war.
Eine Frau mit einem jungen Ferkel unter jedem Arm zwängte sich zwischen ihnen hindurch und bahnte sich lauthals einen Weg durch den Strom bunt gewandeter Marktbesucher. Andere Frauen schleppten Schulterträger, an denen Gefäße mit Ziegenmilch oder Käfige mit Hühnern, Meerschweinchen oder Chinchillas hingen; wieder andere balancierten auf den Köpfen Körbe, die mit Weintrauben, Apfelsinen, Papayas, Guaven oder den pastellfarbenen Kokons der Maulbeer-Seidenraupe gefüllt waren; Frauen in formlosen schwarzen Baumwollkutten zogen Rikschas, in denen Damen saßen, die prächtige Seidengewänder und gelbe Orchideen und Goldkämme in den schwarzen Haaren trugen. Zwei kichernde Schwestern, identische Zwillinge, zwängten sich in eine einsitzige Rikscha und steckten ihre Köpfe heraus und deuteten neugierig glotzend auf Tree und Mason, jedes der Mädchen hatte einen lilaköpfigen Amazonas-Papagei auf der Schulter.
Jou P’u T’uan – Gebetsmatte-des-Körpers. Eine Stadt, im fünfzehnten Jahrhundert gegründet, gelegen in einem vulkanischen Tal auf einem unbezwingbaren Berg, sich selbst versorgend, verborgen in wolkenverhangener Abgeschiedenheit. Keine Radios oder Fernseher; keine Computer oder Faxgeräte; keine Pieper, keine Autotelefone – keine Autos. Die Enkeltöchter von Ko T’ung Jens Kolonisten führten ein Leben, als wäre die kaiserliche Sonne nie über der
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