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Das Geheimnis am goldenen Fluß

Titel: Das Geheimnis am goldenen Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Canter Mark
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probiert hatte.

22
    K’un-Chien stand vor der Kreidelinie, die auf den Boden gezogen war, ihre nackten Füße schulterbreit auseinander, der hintere Fuß parallel zur Linie, der vordere im rechten Winkel dazu. Mit drei Fingern zog sie die Bogensehne zurück, verankerte den Daumen unter ihrem Kinn, so dass die Sehne in gerader Linie über Nase, Lippen und Unterkiefer lag. Sie ließ den Atem ausströmen und mit ihm alle Gedanken und Bilder in ihrem Kopf. Ihr Sichtfeld begrenzte sich auf das Wildschwein aus Stroh. Ihre Finger öffneten sich. Ein zischender Luftzug. Der Pfeil schnellte seinem Ziel entgegen und bohrte sich bis fast zu den Federn in die Flanke des Wildschweins, direkt unter dem Schulterblatt.
    »Mitten ins Herz!«, rief Meng Po. »Oh, ich wünschte, ich wäre so treffsicher wie du.«
    »Du bist viel besser als ich in deinem Alter war«, sagte K’un-Chien. »Beachte einfach, was ich dir sage: Lass deine Finger aufspringen, aber reiß den Bogen nicht hoch, wenn die Spannung entweicht.«
    In seinem von goldenen Gitterstäben umzäunten Raum ahmte Meng Po K’un-Chiens Körperhaltung nach. Er zog die Bogensehne zurück, legte den Daumen unters Kinn. Ließ den Pfeil los. Der Pfeil sauste mehrere Meter über sein Ziel hinweg und traf die hintere Wand des Palastraumes.
    Meng Po seufzte. »Entschuldige, Lehrer, dass ich ein ebensolcher Strohkopf bin wie das Wildschwein.«
    »Unsinn«, sagte K’un-Chien. »Hast du gesehen, wie schnell dein Pfeil flog? Schau, er hat den Kalkstein angekratzt. Das zeigt, wie stark du geworden bist.«
    »Ja, wenn ich Kaiser bin, wird man mich dafür rühmen, mit Pfeil und Bogen Wände zum Einsturz bringen zu können.«
    Sie lachte. »Kleiner Bruder, du musst an deiner Konzentration arbeiten. Bedenke: Bogenschießen ist ebenso eine Fertigkeit des Geistes wie des Körpers. Du hast den Bogen wieder hochrucken lassen, als der Pfeil losschnellte. Schau dir noch mal genau an, wie ich den Bogen halte.«
    In einer einzigen fließenden Bewegung zog K’un-Chien einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn mit der Kerbe an die Bogensehne, zog ihn ans Kinn zurück und ließ ihn ins Herz des Stroh-Wildschweins schnellen.
    »Vortrefflich!« Meng Po klatschte in die Hände, und Kiki vollführte seine kleinen Pirouetten.
    »Setz dich«, sagte K’un-Chien. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen, die mir unsere Großtante erzählt hat, als sie mir das Bogenschießen beibrachte. Die Geschichte veranschaulicht, wie wichtig die Konzentration ist.«
    »Gut. Ich liebe deine Geschichten.« Meng Po setzte sich im Schneidersitz auf den flauschigen, handgeknüpften Teppich, der den Boden seines Raumes bedeckte; die Szene auf dem Teppich zeigte eine Kriegerin, die einem Wildschwein eine Lanze in den Hals stößt. Kiki stieg auf Meng Pos Schoß und kuschelte sich unter sein Herz.
    K’un-Chien begann: »Zwei Schwestern, beide Kriegerinnen, wollten ihre Fertigkeiten im Bogenschießen vervollkommnen, daher reisten sie zur Burg einer Meisterin, um sich von ihr unterrichten zu lassen. Als sie nach langer Reise am Burgtor der Meisterin eintrafen, legten sie eine Decke auf den Boden und breiteten darauf ihre Geschenke aus, Reis und Pflaumwein, Nachtigallen in Käfigen, einen Bogen aus poliertem gelbem Eibenholz und einen edlen Ledersattel mit dem dazugehörenden Zaumzeug. Dann packte die ältere der Schwestern den großen Holzklöppel und stieß gegen den Messinggong am Tor – kongnnnnnnng!
    Sogleich erschienen die Diener der Meisterin und trugen die Geschenke ins Burginnere; des Weiteren überbrachten sie die höfliche Bitte der Schwestern, bei der berühmten Meisterin die hohe Kunst des Bogenschießens studieren zu dürfen. Nach vielen Minuten kehrten die Diener mit einer Trage zurück, auf der eine schwache weißhaarige Frau lag. Ihre faltige Gesichtshaut war so knittrig wie das Pergament einer uralten sutra -Schriftrolle, abgegriffen von den Händen zehntausender Adepten. Durch das schlohweiße, spinnwebenfeine Haar konnten die Schwestern die helle Kopfhaut erkennen, die so dünn war, dass sie mit jedem Herzschlag der greisen Frau pulsierte.
    ›Vergebt uns, Große Meisterin‹, sagte die ältere der Schwestern. ›Wir wussten nicht, dass Ihr in solch vorgerücktem Alter seid. Bitte behaltet unsere Geschenke als Zeichen unserer Ehrerbietung. Vielleicht könnt Ihr sie Euren Ur-Ur-Ur-Enkeln geben.‹ Mit einer tiefen Verbeugung fügte sie an: ›Mit Eurer Erlaubnis werden meine Schwester und ich uns nun wieder

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