Das Geheimnis am goldenen Fluß
einprägt.
Plötzlich vollführte die Tänzerin einen hohen Drehtritt, und Tree riss es fast vom Sofa. Die Choreographie wurde zunehmend athletisch, und Tree verstand, dass der Tanz die aggressive männliche Energie zum Ausdruck bringen sollte – der Drache des Yang.
Die Tänzerin ließ sich abrupt zu Boden fallen und lag zusammengekrümmt da, völlig bewegungslos. In dem schummrigen Rotlicht glänzten die Schweißperlen auf ihrer nackten Haut wie Blutstropfen. Kaum merklich ihren Kopf wendend, schaute sie durch den Raum, wie ein Jaguar, der nach Beute Ausschau hält.
K’un-Chien beugte sich zu Tree und flüsterte ihr ins Ohr: »Nun wird sie aus dem Publikum eine Tigerfrau auswählen, um den Tigertanz aufzuführen.«
Mit zwei flinken Schritten schoss die Drachentänzerin auf Tree zu, griff ihre Hände, zog sie auf die Beine und führte sie in die Mitte des Raumes. Dann schien die Drachenfrau mit dem Publikum zu verschmelzen und ließ Tree, deren Gesicht von der Hitze gerötet war, als neues Objekt der Aufmerksamkeit zurück. Sie blickte Hilfe suchend zu K’un-Chien hinüber.
K’un-Chien nickte und winkte aufmunternd.
»Aber ich kenne den Tigertanz nicht«, zischte Tree durch die Zähne.
Gemurmel erhob sich aus dem Publikum. »Du allein bestimmst, wie der Tanz aussieht«, flüsterte K’un-Chien ihr zu. »Du bist eine Tigerfrau, drück einfach aus, was du fühlst.«
Tree trat einen Schritt vor, um zu ihrem Sofa zurückzukehren, doch K’un-Chien schüttelte alarmiert den Kopf. Ihre großen Augen sagten: Setz dich nicht wieder hin – sie könnten dich dafür umbringen.
Tree schluckte. Was zum Teufel tue ich hier? Nie in ihrem Leben war sie sich ihrer selbst so bewusst gewesen wie in diesem Augenblick. Im Lichtschein der roten Laternen konnte sie sehen, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, wie Kompassnadeln, die auf den magnetischen Norden zeigen. Gespannt beugten sich alle zu ihr vor.
Mein eigener, persönlicher Tanz. Was soll ich tun, feminin agieren? Mich besonders sexy aufführen?
Sie versuchte, sich ein paar erotische Bewegungen auszudenken. Beinahe zwangsläufig musste sie an die billigen Striptease-Aufführungen denken, die sie als neugierige Harvard-Studentin bei gelegentlichen Besuchen in Bostoner Nachtclubs gesehen hatte. Aber einfach nur mit dem Hintern zu wackeln und sich über die Lippen zu lecken wäre ziemlich armselig und lächerlich nach dem wunderschönen, hoch erotischen Tanz, den sie soeben gesehen hatte.
Der Tiger des Yin. Wesen der Frau. Tree wurde bewusst, dass sie sich nie klargemacht hatte, was es bedeutete, eine Frau zu sein. In einer Gesellschaft mit zwei Geschlechtern waren Frauen diejenigen mit einer Vagina; Männer hatten Penisse. Und doch waren Frauen und Männer eine Mischung, die jeweils Teile des anderen beinhaltete. Eine Mischung welcher Kräfte, welcher Eigenschaften?
Hier, in einer Gesellschaft, die einzig aus Frauen bestand, waren es nicht die Genitalien, die den Unterschied machten. Was also machte einen zum Drachen oder zum Tiger? Es war mehr als die Tatsache, dass Drachenfrauen nicht menstruierten. Sie hatte soeben eine Tänzerin gesehen, die, wie Tree es in Ermangelung eines besseren Begriffs nannte, maskuline Kraft verströmte. Nun wurde von ihr verlangt, in ihrem Tanz feminine Kraft zum Ausdruck zu bringen – aber sie wusste nicht, wie sie es anfangen sollte.
Plötzlich wurde ihr das Offensichtliche klar: Es ist keine Frage des Wissens, sondern eine des Seins. Der Schlüssel für einen authentischen Tanz lag nicht darin, sich jede der Bewegungen im Einzel nen zurechtzulegen. Der Schlüssel war, man selbst zu sein und den Körper vom Atem führen zu lassen, sein eigener, Fleisch gewordener Geist zu weiden. Dann würde der Tanz nicht aus vorher festgelegten Schrittfolgen bestehen, sondern, völlig ungekünstelt, aus ihrer eigenen Essenz.
Tree richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Rhythmus ihrer Atmung und spürte wieder die Sinnlichkeit des in ihrem Körper zirkulierenden Lebens. Sie gab sich dieser Sinnlichkeit hin, zuerst mit dem Kopf, ließ die Lebensenergie durch ihren Hals in ihr Gesicht strömen. Zu ihrer Überraschung öffnete sie den Mund und sang einen einzelnen hellen Ton. Dann folgte ein weiterer Ton und noch einer, bis aus dem Brunnen ihrer Seele eine Melodie vibrierender Töne erklang, jeder so lang wie ein ausströmender Atemzug. Das Lied setzte Bewegungsenergie frei, zuerst innerhalb ihres Nervensystems, dann nach außen strömend durch
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