Das Geheimnis am goldenen Fluß
ihren gesamten Körper, bis sie ein tanzendes Musikinstrument wurde. Ab und zu war sie sich für Sekundenbruchteile ihrer selbst so weit bewusst, dass ihr klar wurde, dass die Bewegungen, die sie über den Boden trugen, von ausnehmender Schönheit waren, das anrührendste und wahrhaftigste Ballett, das sie je getanzt hatte.
Tree merkte nicht, wie sie den Tanz beendete und zum Sofa zurückging, wo K’un-Chien ihr zugesehen hatte. K’un-Chien hatte so viele Tränen vergossen, dass die Vorderseite ihres Kimonos feucht war. Tree schaute K’un-Chien ins Gesicht, auf dem noch einige helle Flecken – Überbleibsel der Bienenstiche – zu erkennen waren; um den Hals trug sie noch einen Verband. Trotz alledem war Zweite Frau nach wie vor von atemberaubender Schönheit – was Tree bewies, dass Schönheit nicht von Äußerlichkeiten abhing. K’un-Chien erwiderte ihren Blick mit ihren asiatischen Augen, und plötzlich erinnerte Tree sich an einen alten Steinbruch, in dem sie als Mädchen geschwommen war – sie hatte klare blaue Tiefen gesehen, deren Grund sie nie hätte erreichen können. Was Tree in K’un-Chiens tränengefüllten Augen sah, war Liebe.
Tree nahm K’un-Chiens Gesicht in die Hände und küsste sie auf die vollen, weichen Lippen. Der Rest der Welt schmolz dahin wie Karamellbutter. Nichts um sie herum blieb zurück, außer dem köstlichen Geschmack des Erdenhimmels auf ihrer Zunge.
Ein Klopfen auf Trees Schulter wurde immer drängender. Tree wandte sich um und sah General Yu Lin. Sie war betrunken und bis auf einen Lendenschurz völlig nackt. Ihr massiger Oberkörper glänzte vor Schweiß. Eine grob verheilte Narbe markierte die Stelle, wo ihre Brust abgeschnitten worden war, um ihr das Bogenschießen zu erleichtern.
»Ich will dich, Aprikose«, sagte Yu Lin. »Komm mit. Lass es uns tun.«
Tree war noch völlig beseelt von ihren Gefühlen, und es dauerte einige Sekunden, bis sie verstand: Yu Lin wollte mit ihr schlafen.
»Ihr Name ist Tree«, sagte K’un-Chien. »Seht Ihr nicht, dass sie und ich zusammen sind? Die Etikette des Ho Ch’i verbietet es, Paare zu stören.«
»Du!«, fauchte Yu Lin. »Du wagst es, mich zurechtzuweisen? Du warst nicht einmal eingeladen zum Ho Ch’i. Noch nie. Du vergiftest die Zeremonie mit der dir anhaftenden Schande.«
»Dann sind wir also von unserer Anwesenheitspflicht entbunden?«, fragte Tree.
»Sie ist davon entbunden«, sagte Yu Lin und stieß einen dicken Finger gegen K’un-Chiens Brust. »Ich will, dass sie sofort verschwindet.«
»K’un-Chien ist meine Dienerin, und ich bat sie, mich nach Hause zu begleiten. Deswegen werde auch ich gehen.«
Yu Lin glühte vor Zorn. »Verschwindet«, fauchte sie. »Beide.«
K’un-Chien und Tree fanden Mason im Schlafzimmer, wo er zusammengerollt auf dem Futon schlummerte. Sie weckten ihn, und er setzte sich auf, zerzaust und erschöpft von den Qualen des Brechmittels.
»‘tschuldigung, ich bin wohl eingenickt«, sagte er. »Seid ihr beiden okay?«
»Uns geht es gut«, sagte Tree.
»Bist du sicher?«
Tree lächelte K’un-Chien an. »Ja, das bin ich.«
Mason blickte von Tree zu K’un-Chien und wieder zu Tree. »Sieht aus, als hätte ich etwas verpasst. Was geschah im Liebestempel?«
»Ja«, sagte Tree.
Er starrte sie an. »Ja?«
Sie lachte. »Was glaubst du wohl geschieht in einem Tempel, der dem Liebemachen gewidmet ist? Zuerst sah ich einer Tänzerin zu – es war der erotischste Tanz, den ich je gesehen habe. Dann war ich mit dem Tanzen an der Reihe.«
»Wirklich? Ich liebe, wie du tanzt.«
»Es war nicht ich, die getanzt hat. Ich bin vor den anderen förmlich erstarrt. Dann durchströmte mich dieser – Fluss des Lebens – wie der mächtige Amazonas. Ich hätte nicht widerstehen können, selbst wenn ich es versucht hätte.«
Wieder wanderte sein Blick zwischen den beiden Frauen hin und her, dann lächelte er sanft. »Irgendwas liegt in der Luft, Tree, und es ist kein Parfüm.«
Röte stieg ihr ins Gesicht. »Wir sollten ein bisschen Wasser in dich reinschütten. Deine Lippen sind schon aufgesprungen.«
Tree brachte Mason dazu, vier Tassen Wasser zu trinken, um seinen Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Zwischen den letzten zwei Tassen nickte er kurz ein. Danach setzten sie und K’un-Chien ihn auf und zogen ihm den pyjamaartigen dhoti aus – ein knielanges Leinenhemd über einer weiten Hose – und führten ihn ins Bad. Sie wuschen ihm Oberkörper, Gesicht und Haare, zogen ihm ein frisches
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