Das Geheimnis der Äbtissin
trockenes Blatt im Feuer. Silas nahm seine Tasche und ging zur Tür. Sie folgte ihm. Hinter ihnen begann der Erzbischof das Paternoster zu beten.
»Er konnte nicht einmal mehr beichten«, stammelte sie erschüttert. Noch nie hatte sie einen Menschen an Gift sterben sehen.
»Meint Ihr, das macht für ihn einen Unterschied?«, murmelte Silas.
Ihre Brüder erwarteten sie bereits. »Was ist mit ihm? Stirbt er?«
Sie nickte. »Wahrscheinlich in diesem Moment.«
Sie schwiegen erschrocken.
»Wo ist Vater?«, fragte sie.
»Bei den Mönchen. Sie beten in der Kirche für die Heilung des Bischofs«, entgegnete Beringar.
»Dann geh und sag ihnen, was passiert ist.«
Doch niemand rührte sich von der Stelle.
»Es wird Verdächtigungen geben«, meinte Ludwig.
»Es ist unser Glück, dass alles vor den Augen des Kaisers geschehen ist. Und dass wir alle das Gleiche gegessen haben. Somit dürften der Koch und seine Gehilfen nicht in Frage kommen«, sagte Beringar.
Ludwig schüttelte den Kopf. »Was sollte der Koch auch für ein Interesse daran haben, Bischof Konrad umzubringen?«
»Im Auftrag natürlich, was denn sonst!« Beringar verdrehte die Augen.
Judith grübelte. Sollte sie ihren Brüdern vom Eisenhut erzählen? Sie ging zu Silas hinüber, der abwartend am Eingang zum Kreuzgang stand. »Was hat er gemeint mit diesem ›Be‹? Etwa Beatrix?«
Silas zuckte mit den Schultern. »Und wenn? Das konnte auch bedeuten, dass er sie noch ein letztes Mal sehen wollte.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass Beatrix seit ihrem Gespräch auf dem Hof verschwunden war. Der Tod ihres Beichtvaters schien sie nicht sonderlich zu interessieren.
Als die Sonne bereits dicht über dem Reinhardtsberg hing, ritten sie nach Lare zurück. Ludwig lenkte seinen Hengst neben ihren. »Worüber denkst du nach?«, fragte er. »Über Konrad?«
Sie sah sich vorsichtig um und zögerte mit der Antwort, doch der Kaiser und sein Gefolge waren weiter hinten. »Diese Vergiftung – sie könnte durch Eisenhut hervorgerufen worden sein.«
»Ja – und?«
Sie erzählte ihm von Beatrix’ seltsamem Verhalten in Eschwege.
Ludwig lachte ungläubig: »Sie hat dir tatsächlich das Pulver geklaut?«
»Ich kann es nicht beweisen. Außerdem ist es schon fünf Jahre her. Wenn sie es war – warum hat sie so lange gewartet?«
»Na, das liegt auf der Hand. Sie hat jetzt einen gesunden Sohn. Bisher brauchte sie den Bischof noch. Zur Sicherheit hat sie sich noch einmal schwängern lassen.« Ludwig stieß geräuschvoll die Luft aus. »Das musst du dir mal vorstellen: Sie stiehlt dieses Zeug und bewahrt es fünf Jahre auf, um es dann …«
Judith fiel ihm ins Wort. »Wir wissen nicht, ob es so war.« Sie stupste ihren Hengst leicht in die Weichen. Der schnaubte und legte die Ohren an. »Bist du gar nicht neugierig, ob du vielleicht schon Vater bist?«
Er grinste. »Doch!«
»Wer zuerst auf Lare ist?«, rief sie. Der junge Hengst reagierte sofort auf die freien Zügel und stob davon.
»Verflucht!«, rief Ludwig und gab seinem Pferd die Sporen. Beringar, der mit gespitzten Ohren hinter ihnen geritten war, schloss sich dem Rennen an. Auf der langen Geraden vor dem äußeren Graben zog sein junger Brauner an den anderen vorbei. Beringar sprang als Erster vor dem heimischen Stall ab.
Lachend und schwer atmend übergaben sie die Pferde den Knechten. Ein heller Blitz schoss ihnen jaulend zwischen die Beine. »Sida!« Begeistert ließ sie sich von Judith kraulen.
»Jetzt zeige ich dir die Kapelle!«, verkündete Beringar stolz.
Auf dem Hof nahm sie ihren schmutzigen Umhang ab und rollte ihn zusammen. Orgelmusik drang aus dem Gebäude links vom Tor, bei dessen Anblick sie erstaunt innehielt. Helle Kalksteinquader leuchteten über zwei Geschosse in der Abendsonne, nur unterbrochen von kleinen, gleichmäßig angebrachten Rundbogenfenstern. Eine Tür konnte sie auf dieser Seite nicht sehen.
»Sie ist fertig!«, brachte sie heraus.
»Wir müssen durch die Kemenate, komm!« Beringar zog sie hinter sich her in das ebenfalls neu erbaute Nebengebäude. An einer Reihe Webstühle und aufgestapelter Schafwolle vorbei ging es eine breite Steintreppe hinauf. Der Raum im Obergeschoss war hell, und die hintere Ecke füllte ein ansehnlicher Kamin aus. Saubere Steine und fehlende Rauchspuren zeigten, dass er noch nicht oft benutzt worden war. Sigena saß am Tisch und zerstieß Kräuter in einem Mörser. Vor ihr lagen dicke Büschel länglicher grüner Blätter, deren kräftiger Geruch
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