Das Geheimnis der Äbtissin
Du kannst ihn von hier aus nicht sehen. Unser Kind wird als Erstes in der neuen Kapelle getauft werden.«
»Wenn mir die Frau des Waffenschmieds nicht zuvorkommt«, warf Margarete ein.
»Aber sie ist längst nicht so dick wie du.« Gerade noch rechtzeitig duckte sich Ludwig. Ein kleines Brett aus dem Holzabfall neben der Kanzel flog dicht an seinem Ohr vorbei und landete scheppernd im Erdgeschoss. »Du hast doch selbst von einem Fass gesprochen«, beschwerte er sich. »Kannst du zur Taufe hier sein?«, wandte er sich an Judith.
»Wenn die ehrwürdige Mutter es erlaubt.«
»Ich werde dem Stift ein unschlagbares Argument senden. Was braucht ihr am dringendsten?«
»Räucherfisch! Mutter Gertrud liebt Forellen.«
»Das lässt sich einrichten. An Fisch hat es uns noch nie gemangelt.« Ludwig grinste zufrieden.
Sie gingen nach vorn zum Altar. Judith knickste tief und bekreuzigte sich. »Kommt, lasst uns beten, für Margarete und für euer Kind und für das Wohl dieser Kapelle.«
Ludwigs Frau watschelte heran und wollte ächzend neben ihr niederknien. »Ich glaube, der Herr hat nichts dagegen, wenn du stehen bleibst«, wehrte Judith eilig ab und faltete ihre Hände. »Ora pro nobis, beata mater …« Als sie sich wieder erhob, deutete sie auf den Sockel des massiven Steinklotzes. »Er steht tatsächlich leicht verdreht. Ein ewiges Andenken an den Bischof und seine gewissenhafte Vermessung.«
»Sicher lässt ihn die Erinnerung an diesen schiefen Altar niemals Ruhe finden, ganz gleich, wo er jetzt ist«, sagte Ludwig schadenfroh grinsend.
»Darüber gibt es keinen Zweifel.« Judith bekreuzigte sich erneut. »Und da, wo er jetzt ist, wird ihm Ruhe sowieso nicht vergönnt sein.«
Während des Abendessens schwirrten wilde Gerüchte und Vermutungen durch den Saal, die abenteuerliche Erklärungen für das Schicksal des Bischofs suchten. Der Kaiser hieb schließlich auf den Tisch und verbot weitere Spekulationen. »Falls sich herausstellen sollte, dass fremde Hände im Spiel waren, werden wir Sorge tragen, dass dieses Verbrechen nicht ungesühnt bleibt. Bis dahin jedoch mögen die falschen Zungen schweigen!«
Beatrix war nicht zum Essen erschienen.
Sobald es die Höflichkeit zuließ, schlich Judith hinaus und lief zum Stall. Wie sie erwartet hatte, flackerte der schwache Lichtschein eines Öllämpchens in einem der hinteren Verschläge. Wie schaffte Silas es nur immer, dass sein Nawar in den Stall kam, während die Hengste der anderen Gäste die Nacht auf der Koppel verbringen mussten? Sicher hatte er Swen ein großzügiges Geschenk gemacht.
Nawar reckte seinen Kopf über die Bretter und wieherte leise.
»Was ist, mein Schöner?«, murmelte eine Stimme aus dem Stroh.
Sie schob den Riegel zurück und schlüpfte durch die Tür. Der Hengst schnupperte an ihrem Haar und schnaubte ihr warme Luft in den Nacken. Sie musste lachen. »Ja, ich grüße dich auch, edler Nawar.«
»Judith …« Silas sprang auf die Füße.
Im Schein der kleinen Öllampe sah er so jung aus wie damals, als sie ihn über dem gebrochenen Bein ihres Bruders zum ersten Mal gemustert hatte.
Er lehnte sich an die Bretterwand und betrachtete sie. »Ihr tragt also noch immer den Schleier.«
Sie hob die Schultern. »Was sonst sollte ich tun? Einen Mann ehelichen, den ich nicht liebe?«
Er schwieg. Seine Augen lagen im tiefen Schatten. Nawar schüttelte seine Mähne, als wollte er sein Unverständnis über die schwierigen Probleme der Menschen ausdrücken.
»Seid Ihr glücklich?«, fragte Silas leise.
Schon wieder diese Frage. Sollte sie ihm antworten, was sie Beatrix entgegnet hatte?
»Und du?« Sie flüchtete in eine Gegenfrage.
Das Knarren des Stalltors ließ sie herumfahren. Männerstimmen waren plötzlich im Gang, ein schwankender Lichtschein kündete von einer größeren Öllampe.
»Auf alle Fälle seid Ihr frei von Schuld!« Die Stimme des Kaisers. »Wir alle aßen von dem Fleisch, es war etwas zäh, aber wir leben noch.«
Sie hörte ihren Vater gekünstelt lachen. Panisch sah sie sich um. Sie hätte damit rechnen müssen, dass er seine besten Pferde vorführen würde. Schließlich war der Kaiser ein zahlungskräftiger Kunde und brauchte ständig neue Schlachtrosse. Wie mochte es in seinen Augen wohl aussehen, wenn sich Schwester Judith um diese Zeit im Verschlag bei dem Mauren aufhielt?
Während ihre Gedanken sich jagten, handelte Silas bereits. Er verriegelte behutsam die Tür und löschte das Ölflämmchen. Dann zog er sie hinab ins
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