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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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stemmen und heranfliegenden Ästen, Stoffbahnen und den jämmerlichen Resten der einst prächtigen Fahnen ausweichen. Die rasante Geschwindigkeit des Windes erschwerte zudem das Atmen. Wenn es doch wenigstens regnen würde, damit der Staub aus der Luft gespült wurde. Wie in weiter Ferne hörte Judith ein klägliches Bimmeln. Das konnte nur die kleine Glocke auf dem Dach der Kapelle sein. Sie schob den Knappen, der stoisch mit eingezogenem Kopf seine Last zerrte, in die Richtung des Geräuschs. Endlich schälten sich die Hühnerhäuser aus dem Grau. Sie erkannte das weiße Haus des Kaisers und die Kapelle.
    In der Halle waren bereits viele Menschen versammelt, die hier Zuflucht gesucht hatten. Erschrocken bemerkte Judith, dass noch nichts für die Verwundeten organisiert worden war. Vergeblich sah sie sich nach einem der Herzöge oder anderen hohen Herren um, die mit ihrer Autorität Ordnung hätten schaffen können.
    »Bitte hört mir zu!«, rief sie, doch ihre Stimme war nur ein Fiepsen in dem Getöse. Sie hustete hilflos. An der Seite, gleich neben dem Eingang, sah sie plötzlich Hanima mit ihrer Tochter Simona stehen. Sie lief hinüber. »Wo ist euer Trommler?«
    Ein junger Mann löste sich von der Wand, und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, dass er sein Instrument dabeihatte. Dann erkannte sie ihn. Der Junge mit der Ziege. »Komm mit, ich brauche deine Hilfe.«
    Sie zerrte ihn in die Mitte des Saals. »Trommle, sosehr du kannst. Ich will, dass alle hersehen und mir zuhören!«
    Er verstand. Er ließ seine Hände auf dem Trommelfell tanzen, schnell und immer schneller. Zunächst waren das Brausen des Windes und das Gezeter der Menschen lauter, doch allmählich breitete sich Schweigen im Raum aus. Als alle mit fragendem Blick auf den Trommler starrten, gab sie das Zeichen zum Aufhören.
    »Leute, hört mir zu!«, rief sie. Der Sturm rüttelte mit Macht an den Holzplatten des Dachs, und sie musste sich anstrengen. »In diese Halle sollen die Verwundeten gebracht werden. Bitte räumt den rechten Teil, dort, wo die Fenster sind. Wenn ihr Decken habt oder Tücher zum Verbinden, bringt sie hinüber und legt sie dort ab. Wer mutig genug ist, sollte mit hinausgehen und helfen, die Pferde einzufangen und Verletzte herzubringen. Ich danke euch!« Sie nickte dem Trommler zu und bat: »Sorge am Eingang für Platz, und lass die Verletzten sofort zu mir bringen.« Dann lief sie dorthin, wo die Leute zwar murrend, aber doch einsichtig Platz machten. Der Knappe hatte seine Last bereits abgelegt. Einige Frauen boten Hilfe an und brachten Tücher. Sie bat sie, diese in Streifen zu reißen. »Wir brauchen Wasser. Kann jemand Wasser besorgen?«
    Die Frage wurde weitergegeben, bis eine junge Frauenstimme antwortete: »Im Hühnerhaus ist immer Wasser, ich laufe hinüber.«
    Plötzlich stand Hanima an ihrer Seite. »Ich kann Wunden versorgen.«
    »Das ist gut. Hilf mir bei dieser Frau. Sie ist am Kopf verletzt.«
    Sie sah sich um. Auf einer Decke wurde ein Ritter gebracht, der bei Bewusstsein war und über Schmerzen im Bein klagte. Sie bat einige umstehende Männer, ihm zunächst aus der Rüstung zu helfen. Zwei Knappen stützten einen älteren Pferdeknecht, ein fliehendes Pferd hatte ihm die Rippen eingetreten. Ein kleines Mädchen blutete am Kopf.
    Allmählich gewann sie die Übersicht und atmete tief durch. Sie gab Anweisungen, ordnete die Verwundeten nach Dringlichkeit und begann die Wunden zu verbinden. Wenn sie nur erst Wasser hätte.
    Am Eingang entstand Tumult. Sie richtete sich auf. Eine Magd taumelte durch die Menschen. Ihr Gesicht war verschmiert, ob es Blut war oder nur Staub, vermischt mit Tränen, konnte sie nicht erkennen. Ihre Miene spiegelte blankes Entsetzen wider. »Gott steh uns bei!«, rief sie. »Der Sturm hat das Fürstenhaus in Stücke gerissen! Er hat es vor meinen Augen nach oben gezogen, als wäre es eine Hundehütte!«
    Als Fürstenhäuser wurden die Wohnhäuser bezeichnet, die auf dem zentralen Platz neben dem weißen Kaiserhaus standen. Sie waren tatsächlich für die höchsten Herren des Reiches und Vertrauten des Kaisers gebaut worden. Die Leute schwiegen erschrocken. Umso deutlicher hörten sie das unheimliche Heulen des Windes, das jetzt von lautem Poltern auf dem Dach der Halle unterstützt wurde, was in den Ohren der verängstigten Menschen klang, als wollten Dämonen sich Einlass verschaffen. Offensichtlich fielen die Trümmerteile vom Himmel.
    Judiths Blick fiel auf einen Priester, der

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