Das Geheimnis der Äbtissin
mit weit aufgerissenen Augen zur Decke starrte, als würde er damit rechnen, dass sich dort im nächsten Moment das Tor zur Hölle öffnete.
Sie lief zu ihm und rüttelte an seiner Schulter. »Pater, betet mit den Menschen! Ich bitte Euch! Sonst bricht hier gleich eine Panik aus!«
Doch es war zu spät. Im selben Augenblick schien sich die Hölle wirklich aufzutun. Ein dicker Holzbalken brach durch die Fenster über dem provisorischen Verwundetenlager und schlitterte durch den Saal. Wer nicht von ihm mitgerissen wurde, kam vor Schreck in Bewegung. Unter lauten Entsetzensschreien drängten die Leute zur Tür und wollten hinaus. Wer fiel, wurde niedergetrampelt. Wer zu langsam war, wurde zur Seite gestoßen.
Judith schwankte zwischen der Sorge um ihre Verletzten und dem Drang, die Leute in der schützenden Halle zu halten. Durch die geöffnete Tür sah sie, dass draußen die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben waren. Direkt über dem Platz vor der Kapelle hing ein dicker Schlauch aus Staub und herumwirbelnden Gegenständen. In der sich rasend schnell drehenden Spirale erkannte sie undeutlich einen Leiterwagen, Kessel, einen Sattel, ein zappelndes Tier – Hund oder Schaf – und immer wieder Stangen und Balken. Wie der Strudel in der Milch beim Buttern schwankte der Schlauch leicht hin und her. In halber Höhe bog er sich ein wenig durch, als wäre all der fliegende Ballast zu schwer für ihn.
Der Menschenstrom stockte beim Anblick dieses Giganten. Einige wenige rannten davon, andere wollten zurück in die Halle, die meisten fielen auf die Knie und beteten.
Judith lief zur eingeschlagenen Fensterseite. Für die Frau auf der Schlepptrage gab es keine Hilfe mehr. Der Balken hatte ihr den Kopf weggerissen. Neben ihr lag Hanima mit eingedrücktem Brustkorb. Ihre erloschenen Augen starrten sie anklagend an. Judith fühlte, wie Verzweiflung von ihr Besitz ergriff. Wie Wasser in einem sich schnell füllenden Eimer stieg sie in ihr nach oben und nahm ihr die Luft. Dabei formte sie eine einzige Frage in ihrem Kopf: Warum?
Ihre Beine knickten ein. All das Entsetzen – was konnte sie schon ausrichten? Das auf- und abschwellende Heulen des Sturms klang aus weiter Ferne an ihr Ohr, sie hörte nur noch ihr Herz schlagen, und dieses Warum dröhnte in ihrem Kopf. Dann fiel sie nach vorn. Wohltuende Dunkelheit und Stille schlugen über ihr zusammen.
Eine feste Hand rüttelte an ihrer Schulter. Noch immer hörte sie keinen Laut. Diese Stille schmerzte in ihrem Kopf.
»Judith!«
Was für eine liebliche Stimme! Schon wich der Schmerz, und sie konnte sich der Stille hingeben, die weich war wie frisch geschorene Schafwolle. Und sie duftete nach Nelken und Zimt.
»Judith, wacht auf! Ich bitte Euch!«
Widerwillig schlug sie die Augen auf. Und versank sogleich in einem besorgten Blick, schwarze Pupillen, die mit der dunklen Iris verschmolzen. Unglaubliche Erleichterung breitete sich in ihr aus. Silas war da. Er würde sich um alles kümmern. Er würde die Leute zurück…
Diese Ruhe!
»Ist … es vorbei?«
»Falls Ihr den Sturm meint, ja. Der Alptraum allerdings nicht. Einige Leute werden nach wie vor vermisst, andere werden noch sterben.«
»Hanima!« Sie richtete sich auf. Die beiden toten Frauen waren verschwunden. Die Halle war leer, bis auf einige Verletzte und drei leblose Bündel an der Wand gegenüber.
»Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich hatte auf einmal keine Kraft mehr.«
»Ihr habt eine dicke Beule am Hinterkopf. Außerdem steht Ihr unter Schock. Ihr wisst selbst, was das bedeutet.«
»Hanima wollte mir doch nur helfen. Ich verstehe nicht …«
»Seit wann grübelt Ihr über Fragen nach, auf die es keine Antwort gibt? Wenn Ihr Euch besser fühlt – eine Menge Arbeit liegt vor uns.«
»Ist jemand von der Kaiserfamilie …?«
»Es sind alle gesund.«
Die Tür öffnete sich, und Simona steckte den Kopf herein. »Ist meine Mutter hier?«
»Gütiger Jesus!«, flüsterte Judith und warf Silas einen flehenden Blick zu. Er verstand und erhob sich. Leise redete er auf das Mädchen ein, fasste es am Arm und führte es zu den Toten. Sie rappelte sich auf und eilte ihnen nach. Vor der heftig schluchzenden Simona deckte sie die Leiche auf und betrachtete voller Schuldgefühle Hanimas friedliches Gesicht.
Dann riss das Mädchen sich los und rannte hinaus.
Sie trat neben Silas vor die Tür. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, was die Suche nach den Vermissten sehr erschwerte. Eine Vielzahl von
Weitere Kostenlose Bücher