Das Geheimnis der Äbtissin
Öllampe sicher ab und kroch hinaus. Friedrich war sofort zur Stelle. »Was ist? Was können wir tun?«
»Wir können nichts mehr für sie tun.« Er wollte aufbrausen, doch sie packte ihn bei den Armen. »Aber Ihr, junger Herr, Ihr werdet noch etwas tun. Ihr kriecht jetzt dort hinein und bleibt bei ihr, bis sie es überstanden hat.«
Die Umstehenden schwiegen erschüttert. Friedrich starrte sie an und begann hemmungslos zu weinen. »Nein! Das ist nicht wahr! Sagt, dass es nicht wahr ist!«
Judith, die ihn noch immer gepackt hielt, schüttelte ihn kräftig. »Ritter Friedrich, diese Magd dort unter den Balken ist hundertfach tapferer als Ihr. Wollt Ihr dem Mädchen so Trost spenden?«
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Dann riss er sich los und kroch unter das Trümmerdach.
Als sie sich umwandte, sah sie den Kaiser hinter sich stehen. Sein Purpurmantel war voller Staub und teilweise zerrissen, sein Harnisch zerkratzt und voller Beulen. Seine Augen fixierten sie, als wollte er sie durchbohren. Sie verneigte sich, doch er hob sie an ihren Schultern auf. »Judith, ich stehe schon wieder in Eurer Schuld. Wenn der Junge Euch Ärger gemacht hat …«
»Nein, Durchlaucht. Er braucht Eure Hilfe dringender. Seine erste große Liebe liegt unter den Trümmern und stirbt.«
Friedrich seufzte. »Was für ein Tag …«, murmelte er unendlich müde.
Aus dem Trümmerhaufen neben dem Hühnerhaus drang ein unmenschlicher Schrei, der die Umstehenden zurückweichen ließ. Sie bekreuzigten sich hastig. Judith atmete heimlich auf. Das Mädchen hatte es überstanden.
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte der Kaiser und legte ihr zum Abschied die Hand auf die Schulter.
Als sie in die Halle zurückkam, hatte Silas den Splitter entfernt und schiente gerade das Bein des Soldaten. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, als er sie fragend ansah, und reichte ihm einen Streifen Stoff zum Fixieren der Holzleisten.
»Das mit dem Gehilfen …« Sie suchte seinen Blick.
Er grinste. »Weil Ihr es wart, sei es vergessen.«
Als sie endlich zum Ausruhen kamen, dämmerte bereits der neue Morgen. Viel zu erschöpft, um schlafen zu können, saßen sie eng aneinandergelehnt an der Wand der Festhalle zwischen denen, die sie nicht hatten retten können, und jenen, die noch um ihr Leben kämpften. Sie schliefen nicht miteinander, und doch hatte sie das gute Gefühl, eins zu sein mit ihm. Als ob ihre Seelen in beiden Körpern gleichzeitig wohnten und jeder nur halb war ohne den anderen. Fast wie Hanimas Töchter, die beiden Schwestern mit einem einzigen Namen.
Der helle Morgen offenbarte das gesamte Ausmaß der Zerstörung. Es wurden keine weiteren Überlebenden gefunden. Die Zahl der Toten erhöhte sich auf fünfzehn. Von der Kaiserfamilie war niemand körperlich verletzt worden. Beatrix hatte mit ihren Kindern im weißen Kaiserhaus ausgeharrt, das nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte, während der Sturm ringsherum alles niederriss. Es gab einen kurzen Trauergottesdienst für die Toten, das Fest wurde anschließend sofort beendet. Das große Turnier in Ingelheim fand nicht mehr statt.
Noch Jahre später sollten sich die Gemüter von Augenzeugen, Geistlichen, Geschichtsschreibern und simplen Schwätzern daran erhitzen, ob die Katastrophe als Strafe Gottes für die immensen Verschwendungen während dieses einmaligen Festes zu sehen sei.
In anegenge was ein wort, daz wort was mit got,
got was daz wort. …
Das wort ist ze vlaische worden, vnd wont in vens
wier haben sein ere gesehen als eines ainworn svnes
wie den sein vater eret voller genaden und voller warheit.
Durch didisiv rede des hailgen ewangelii
vergebe vens herre alle venser Missetat.
amen.
Am Anfang war ein Wort, das Wort war durch Gott,
Gott war das Wort. …
Das Wort ist Fleisch geworden und wohnt in uns,
wir haben seine Ehre gesehen
als einen einzig geborenen Sohn,
wie ihn sein Vater ehrt, voller Gnade und voller Wahrheit.
Um dieser Worte des heiligen Evangelisten willen
vergebe uns der Herr all unsere Vergehen.
Amen.
Johannes 1, 1–14
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Eschwege, Februar anno 1191
»Judith von Lare, Äbtissin im Cyriakusstift, entbietet ihrem Bruder, dem Grafen Ludwig von Lare, ihren Gruß. Ich hoffe, der Brief findet Euch alle bei guter Gesundheit, obwohl ich befürchte, dass Deiner Galle das kalte Wetter nicht bekommt. Gewiss quälen Dich öfter Schmerzen. Ich hoffe, Du trinkst einen Aufguss des Schöllkrautes?
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