Das Geheimnis der Äbtissin
Westturm klettern, dazu reichte die Zeit nicht.
Im Sommer des vergangenen Jahres war Kaiser Friedrich im Heiligen Land umgekommen, und sein Sohn Heinrich, der sich bereits während des Kaisers Abwesenheit um die Regierungsgeschäfte im Reich gekümmert hatte, war nun regierender König. Doch was wollte er hier in Eschwege, so überraschend und zu dieser unwirtlichen Jahreszeit?
Sie wickelte sich fest in den Umhang und eilte hinaus. Aus dem Küchentrakt hörte sie das Scheppern von kupfernen Kesseln und nickte zufrieden. Dicker grauer Rauch stieg aus dem Schornstein und verbreitete den Geruch von feuchtem Ruß in der Winterluft. Auf dem Hof des Stifts lag der Schnee kniehoch. Auf einem der freigeschaufelten Verbindungswege zwischen Kirche und Haupthaus kam ihr die Priorin entgegen. Die kleine Frau lief trotz ihrer Leibesfülle erstaunlich leichtfüßig und erinnerte an eine über den Schnee hüpfende Dohle.
»Mutter Oberin!« Sie hob beide Hände.
Judith wappnete sich im Stillen gegen ihren Drang zum Dramatisieren.
»Mutter! So viele königliche Reiter! Wie sollen wir sie versorgen? Wir haben kein Mehl mehr!«
»Wie viele sind es?«
»Mindestens zwei Dutzend!«
Judith rundete die Zahl in Gedanken ab und entgegnete lapidar: »Die Küche soll das Apfelmus aufwärmen.«
Mutter Augusta riss die Augen auf. »Ihr wollt den König mit Apfelmus abspeisen?«
Sie lachte lautlos. Wie immer war die Priorin nicht empfänglich für ihren Humor. »Nein, natürlich nicht. Wir werden ein paar Hühner schlachten. Dazu gibt es Pastinaken und Möhren. Und die Räucherwurst ist auch noch frisch. Die wird den Herren schon schmecken.« Sie wandte sich zum Tor. »Mal sehen, was sie überhaupt wollen.«
»Na, essen wollen sie bestimmt!«, schnappte Mutter Augusta. »Sie wären die Ersten, die ohne eine ausgiebige Mahlzeit weiterreisen.«
»Kümmert Euch um die Küche. Ich werde sie empfangen.«
Ein Knecht öffnete das Tor, und sie ging den dick vermummten Reitern entgegen. Sie suchte vergeblich nach einem bekannten Gesicht, sah blaugefrorene Nasen und vom Frost gerötete Augen. Mit steifen Beinen stiegen die Männer von den dampfenden Pferden. Einer von ihnen trat auf sie zu und nickte knapp.
»Seid Ihr die Oberin?«
»Ja, ich bin Mutter Judith.«
»Ich bin Heinrich. Für mich und meine Ritter bitte ich um Obdach und eine warme Mahlzeit.« Seine Stimme klang heiser.
Sie verbeugte sich. »Ihr seid willkommen, Durchlaucht.«
Die Knechte, die im Hintergrund gewartet hatten, kümmerten sich gemeinsam mit den Pferdejungen des Königs um die Schlachtrösser und die Gepäckpferde. Die Männer folgten ihr mit schweren Schritten zum Gästehaus. Judith zählte neun Ritter und sechs Knappen, dazu der König. Sie winkte einer Novizin und bat sie, der Köchin die Zahl der Gäste zu melden. Einer der Männer blieb im Hospital neben ihr stehen.
»Judith, erkennt Ihr mich nicht mehr?«
Sie musterte ihn. Lichtes Haar, graue Schläfen, etwas unsteter Blick. »Markward von Annweiler!« Sie hob die Hände. »Vergebt mir meine Schusseligkeit. Ich werde alt.«
»Ich bitte Euch. Immerhin ist es sechs Jahre her.«
»Im Mai werden es sieben. Und Ihr seid noch immer der Lehrmeister des jungen Königs.«
»Der inzwischen das Reich regiert, ja. Wie habt Ihr Euch damals ausgedrückt: Eine große Aufgabe, der nichts anderes im Wege stehen darf.«
»Das habe ich gesagt?«
»Aber ja!«
Die Dämmerung senkte sich schon über das weiße Land, als sie endlich im Speisesaal beim Essen saßen. Sie musterte Heinrich verstohlen. Er konnte höchstens fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt sein, doch um seinen Mund hatten sich bereits markante Falten gegraben. Er sah erschöpft und krank aus. Das helle Haar, unverkennbar ein Erbteil seiner Mutter, hing ihm stumpf und strähnig auf die Schultern. Er aß kaum etwas, während seine Männer über die gebratenen Hühnchen herfielen. Dafür trank er viel von dem verdünnten Wein.
»Wir wollten heute bis zur Wartburg reiten, doch die Pferde kommen bei diesem Schnee nur sehr langsam vorwärts. Außerdem gibt es jede Menge Wölfe hier in der Gegend. In der Dunkelheit werden sie dreist.« Er hustete trocken.
»Der Winter ist die Jahreszeit der Wölfe. Sie wagen sich bis in die Ortschaften und holen den Bauern das Vieh aus dem Stall. In Schwebda griffen sie am Neujahrstag eine alte Frau an.«
»Es tut mir leid, dass wir Euch Umstände machen«, sagte er leise.
»Ich bitte Euch! Gastfreundschaft gehört zu
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