Das Geheimnis der Äbtissin
Ich bete jeden Tag für Dich und Margarete, für meine Patentochter Adelheid und für eine gesunde Niederkunft ihres ersten Kindes.
Was für ein Winter! Die Kälte kriecht durch die Mauern wie eine fette Kröte durchs Schilf und macht sich in meinen alternden Knochen breit. Die Wände glitzern, als wären sie aus Marienglas errichtet. Alle Stunde gehe ich ans Feuer, um die Hände zu erwärmen, damit sie mir wieder gehorchen.
Leider muss ich Dich über ein Problem unterrichten. Wie Du weißt, hat Kaiser Friedrich – Gott sei seiner Seele gnädig – einst entschieden, dass die Geldbußen Deiner Gerichtsbarkeit über unser Stift zu zwei von drei Teilen an uns zu zahlen sind. Ich bitte Dich, Deinen Verwalter anzuweisen, uns den Anteil von einem Schilling aus der Geldstrafe des Knechtes Hermann zu schicken. Er wird uns verweigert mit der Begründung, der Verurteilte habe die Schafe nicht in Eschwege gestohlen, sondern nur verkauft. Er unterstehe damit nicht des Kaisers Anweisung. Das ist eine falsche Auslegung des Gesetzes. Der bestrafte Knecht stand in Diensten des Stifts, und das allein zählt. Ich bitte Dich um schnelle Klärung, da wir zu Ostern neue Lämmer kaufen müssen.
Es möge der Herr über Euch alle wachen und seine schützende Hand über Euch halten.
Gegeben im Stift des heiligen Cyriakus zu Eschwege, am 5. Februar des Jahres 1191 nach Christi Geburt.«
Judith legte vorsichtig die Feder zur Seite, erhob sich von dem schmalen hölzernen Bänkchen und trat an das prasselnde Feuer. Sie hielt die Hände nah an die Flammen und genoss für einen Moment die Wärme. Dann ging sie zurück an das Schreibpult. Bis zur Vesper musste sie noch zwei Briefe schreiben und die Abrechnung der letzten Woche fertigstellen. Sie seufzte. Manchmal vermisste sie den einfachen Tagesablauf, den sie als Nonne gehabt hatte. Das Reinigen und Sortieren der Kräuter, das Zerstoßen der trockenen Blätter, das Abfüllen der Arzneien, regelmäßig unterbrochen von den Stundengebeten und den Mahlzeiten. Selbst der Unterricht fehlte ihr zuweilen.
Zwar hatte sie sich früher auch sorgen müssen, vor allem, wenn gegen Ende des Winters bestimmte Kräuter zur Neige gingen oder wenn die Französischstunden wieder einmal keinen Fortschritt bei den Mädchen erkennen ließen, doch schien ihr das Leben damals einfacher gewesen zu sein. Heute drückte die Verantwortung für zwei Dutzend Nonnen und elf Novizinnen auf ihren Schultern. Bei dieser bitteren Kälte, die nun schon zehn Wochen anhielt, stürzten täglich neue Probleme auf sie ein. Erst gestern hatte der Müller seine Mehllieferung abgesagt, weil der Mühlbach zugefroren war. Jetzt musste sie das Mehl rationieren. Im Obstkeller war ein Teil der Äpfel erfroren, nachdem eine der jungen Schwestern die Tür nicht richtig geschlossen hatte. Die Köchin hatte sie allerdings noch zu Apfelmus verarbeitet, so dass der Schaden gering blieb. Sie seufzte und ging zurück zu Tinte und Feder. Vielleicht waren es auch einfach die siebenundvierzig Lebensjahre, die sie im vergangenen Herbst vollendet hatte? Sie schüttelte den Kopf und schalt sich eine dumme Gans. Noch fühlte sie sich nicht alt. Mutter Gertrud hatte beinahe doppelt so viele Jahre gezählt, als sie starb, was erlaubte sie sich für Hirngespinste!
Als sie laute Stimmen auf dem Hof hörte, furchte sie unwillig die Stirn. »Was ist denn nun schon wieder?« Sie stand auf und griff nach ihrem wollenen Umhang.
Im selben Moment klopfte es zaghaft an der Tür. Eine Novizin steckte den Kopf herein. »Mutter Oberin, vergebt mir die Störung. Die Priorin schickt mich. Es nähern sich Reiter vom Westen her.« Kalte Luft strömte um Judiths Füße.
»Komm herein und schließ die Tür.« Stirnrunzelnd blickte sie zum Fenster, doch das war zum Schutz vor der Zugluft mit dicken Brettern vernagelt und mit Werg ausgestopft. »Wer reist denn bei dieser Kälte? Tragen sie Farben bei sich?«
Die Novizin nickte aufgeregt. »Ja. Mutter Augusta sagt, es sind die Farben des Königs!«
»Was?« Sie erbleichte. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. »Benachrichtige die Küche! Sie sollen das Feuer im Herd anfachen. Und das Hospital ist herzurichten!«
Die Novizin verschwand. Wieder einmal verwünschte sie die verschlossenen Fenster, die ihr den Ausblick über die Ebene versagten und ihr das Gefühl einer dauernden Gefangenschaft gaben. Wie gern hätte sie sich selbst ein Bild von der Reiterschar gemacht. Doch sie konnte unmöglich noch auf den
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