Das Geheimnis der Äbtissin
lange Stoffbahn beim Tuchhändler wickelten sich die Laute um ihren Kopf. Sie kamen aus allen Richtungen, die Wände, selbst die Pfeiler schienen die Stimme der Königin zu imitieren. Verwirrt blieb sie stehen. »Beatrix, wo seid Ihr?«
Ein Kichern tönte von der Stelle der Vierung, wo sie die Königin zuletzt gesehen hatte. Aus dem Chorraum hörte sie außerdem das Knarren einer Holztür, dann schnelle, feste Schritte auf Stein.
»Na, was sagst du?«, fragte Beatrix, die aus dem Querschiff trat.
»Was war das?«
»Das Wunder des Herrn!«, antwortete Beatrix ernst. »In jeder großen Kirche funktioniert es. Der Herr verstärkt die Töne, damit alle Menschen den Priester verstehen und das Wort Gottes hören können.«
Die festen Schritte kamen näher. »Was fällt euch ein, ihr erbärmlichen Weibsbilder?«, fiel plötzlich eine wütende Stimme über sie her. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als die Stille eines Gotteshauses zu stören? Schert euch an euer Gewerk, geht nach Hause!« Ein kahlköpfiger Priester im Ordensgewand eilte auf sie zu. Er glich einer Krähe, die ein Stück Aas am Wegesrand gefunden hat.
Judith trat ihm zögernd entgegen. »Hochwürden, Ihr scheint nicht zu wissen …«
»Lass!«, fiel ihr Beatrix ins Wort. »Es tut uns leid, Hochwürden. Wir gehen sofort.« Sie packte Judith energisch am Arm und zog sie durch das Langschiff. Hinter ihnen schimpfte der Priester unablässig weiter. Seine Stimme sprang von Säule zu Säule und hackte selbst am Portal noch auf sie ein. Erleichtert hörte Judith die schwere Holztür hinter sich ins Schloss fallen.
»Es tut gut, mal keine Königin zu sein, sondern einfach nur ein erbärmliches Weibsbild!«, sagte Beatrix kichernd. »Und nun lass uns nach Hause gehen, unser Gewerk wartet!«
Jetzt musste auch Judith lachen.
Nach drei ermüdend langen Tagesritten erreichten sie die Pilgerstadt Esslingen, wo sie wiederum einen Tag Ruhe hatten. Die letzte Teilstrecke ließ Konrad aus Rücksicht auf die kränkelnde Königin etwas gemächlicher reiten. So kamen sie nach einer weiteren Woche am Bodensee an. In der Abtei St. Gallen wurden sie von den Benediktinermönchen aufgenommen. Im Stillen hoffte Judith, die Ritter aus Burgund würden sich Zeit lassen. So hätte Beatrix genug Muße, sich mit warmen Sitzbädern endlich auszukurieren. Der Kräutergarten der Mönche bot ein wahres Refugium an seltenen Pflanzen und Arzneien. Begierig nahm sie alles auf, was ihr Bruder Gisbert, der Klostergärtner und Heiler, zeigte und erklärte. Abends saß sie lange beim Schein einer Kerze in der einfachen Zelle des Klosterhospizes und notierte ihre erworbenen Kenntnisse. In Gedanken diskutierte sie bereits mit Silas über neue Anwendungsmöglichkeiten und Rezepturen.
»… Die Mönche verwenden ebenfalls Mohnsaft, allerdings vermischen sie ihn mit Hopfen, welcher zu einem ruhigen Schlaf verhilft und nicht so gefährlich ist. Im Klostergarten wächst der gelbe Enzian, den mir Bruder Gisbert gegen Magenbeschwerden empfiehlt. Ich muss sehen, welchen zu ernten, wenn wir durch die Berge reisen …«
Beatrix beschwerte sich nicht über ihren Arbeitseifer. Sie kam erst mit Einbruch der Dunkelheit mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen ins Hospiz zurück und berichtete weitschweifig von der schönen Landschaft um St. Gallen, die sie in Begleitung des Bischofs zu Pferd oder zu Fuß erkundet hatte. Sie erholte sich erstaunlich schnell in der milden Luft der Voralpen.
»Das ist die Vorfreude, Judith. Nur noch wenige Tage, dann sind wir beim Kaiser!« Sie strahlte erwartungsvoll.
Nach fünf Tagen meldete ein Vorreiter das burgundische Heer, das einige Stunden später seine Zelte vor St. Gallen aufschlug. Während Konrad und Beatrix darüber stritten, ob sie hinunterreiten und die Truppe begrüßen sollten, klopfte der Herzog von Burgund bereits an das Klostertor. Beatrix empfing ihn im Refektorium. Judith staunte über die warmherzige Verehrung, mit der der junge Ritter seine Königin begrüßte. Er sank vor ihr auf die Knie und senkte den Kopf.
Erst als sie ihn an der Schulter berührte, erhob er sich. »Durchlaucht, meine Ritter und ich, wir stehen Euch zu Diensten!« Der Herzog war groß und blond, unter dem staubigen Kettenhemd ahnte Judith einen muskulösen Körper. Auch ihr schenkte er einen offenen und freundlichen Blick.
Beatrix nickte ihm zu. »Ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet, mein lieber Vetter. Wann können wir abreisen?«
»Morgen würde ich den Männern gern
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