Das Geheimnis der Äbtissin
Anziehen. Seine Bewegungen waren fahrig. An seiner Hand entdeckte sie den Abdruck ihrer Zähne.
Sie standen so dicht, dass sie seine Körperwärme fühlte. »Was wird jetzt werden? Mit uns?«
Sie wusste, dass jede Entgegnung den Zauber des Augenblicks zerstören würde, und sie fürchtete sich vor seinen Worten. Er schwieg. In der folgenden Stille hörten sie nur die mahlenden Geräusche der Pferdemäuler. Die Rauchschwaden über der Ebene rissen auf. Als hätte sie nur darauf gewartet, malte die Sonne helle Flecken auf die Stadt und das betriebsame Feldlager.
»Wenn ich könnte, würde ich jetzt die Zeit anhalten«, sagte Judith.
Er sah sie an und lächelte traurig. Seine Augen waren wieder unergründlich. »Judith, Ihr wisst genauso gut wie ich …« Er brach ab und schwieg.
Sie wunderte sich über seine Ratlosigkeit. Er wusste doch stets einen Weg. »Aber ich könnte hierbleiben! Als Heilerin im Heer des Kaisers, genau wie du. Wir wären zusammen, immer!«, haspelte sie atemlos. Zu groß war die Angst, er könne sie unterbrechen, die Logik ihres Vorschlags widerlegen.
Silas schüttelte den Kopf. »Das würde Euer Vater nie erlauben.« Er hob die Hand, als sie ihm ins Wort fallen wollte. »Ich bin ein Sklave, habt Ihr das vergessen? Ich gehöre dem Kaiser! Und Ihr seid eine Grafentochter.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hätte das hier niemals zulassen dürfen …«
»Warum nicht? Ich habe mir so lange gewünscht, dass du es tust. Erinnerst du dich an deine Worte: Manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, bei denen Herz und Verstand sich streiten.«
»Aber es darf nicht sein.«
»Wer bestimmt das? Glaubst du, unsere Liebe verblasst einfach wie die Bissspuren auf deiner Hand? Ich werde sterben ohne dich in meiner Nähe.«
»So schnell sterbt Ihr nicht. Ihr werdet mich vergessen, sobald Ihr im Norden seid und …«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Ich könnte Friedrich bitten, dich freizulassen. Vielleicht, wenn Beatrix mit ihm spricht …«
Er fuhr herum, seine Kieferknochen traten hervor. »Tut – das – nicht!«, stieß er heraus. »Ich werde niemals als ein Geschenk aus Kaisers Hand enden!« Dann wandte er sich ab und pfiff einmal kurz. Nawar spitzte die Ohren und trabte heran. Die braune Stute folgte ihm sofort.
Wie betäubt stieg Judith in den Sattel. Als Nawar sich übermütig an ihr Pferd drängte, stießen sie unsanft mit ihren Knien zusammen. Silas fasste nach seinen Zügeln und beugte sich zu ihr hinüber. »Judith, die Welt ist, wie sie ist. Ihr werdet Beatrix in den Norden begleiten. Ich werde beim Kaiser bleiben. Der Falke und der Sperling haben keine gemeinsame Zukunft.«
Ihre Lippen zitterten, wollten ihr nicht gehorchen, doch sie schaffte es, die eine Frage zu stellen: »Und wenn der Falke und der Sperling sich lieben?«
Er sah sie nicht an, während er Nawar die Zügel ließ und ihm ungewöhnlich fest die Fersen in die Weichen stieß.
Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân
und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant
er huop sich ûf vil hôhe und vlouc in ándèriu lant.
Ich zog mir einen Falken länger als ein Jahr.
Als ich ihn gezähmt hatte, so wie ich ihn haben wollte
und ihm sein Gefieder mit Gold bekleidete,
erhob er sich sehr hoch und flog in ein anderes Land.
Der von Kürenberg, 12. Jh.
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Burg Lare, im Frühjahr anno 1160
D ie letzten Meilen waren die längsten. Die Mauern der Stadt Mülhusen verschmolzen hinter ihnen mit dem Horizont, und der maigrüne Laubwald des Hainichs verschluckte den Tross. Ein Eichelhäher meldete kreischend die Eindringlinge, deren Augen sich im Schatten des Waldes entspannten.
Judith zappelte im Sattel vor Ungeduld und steckte selbst Beatrix mit ihrer Vorfreude an. Seit heute früh hatte sie keine Sekunde mehr an die schmerzliche Trennung von Silas gedacht. Diese finstere Kammer im hinteren Winkel ihres Herzens würde sie erst wieder öffnen, wenn sie zu Hause angekommen war und wenn sie das Wiedersehen mit ihren Brüdern ausgiebig genossen hatte.
»Ich bin so gespannt, wie groß Beringar inzwischen ist. Fast ein Jahr ist vergangen, seitdem wir Lare verließen. Er wird bald neun Jahre alt.«
Beatrix lächelte genervt. »Das sagtest du schon hundertundeinmal!«
»Und Ludwig? Er muss ein stattlicher junger Mann sein, bestimmt bekommt er bald das Schwert umgegürtet. Und Isabella wird Augen machen, wenn sie sieht, was ich ihr mitbringe.«
Die
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