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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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vorderster Reihe, und kein Soldat wollte ihnen nachstehen. Nach vielen Stunden erbitterter Gefechte brach der Widerstand der Städter. Arme Menschen, die schließlich den neuen Angriffsmaschinen ihres eigenen Landsmannes zum Opfer fielen. Trotz des Mutes unserer Kämpfer war es wohl der Verrat, der den Sieg bewirkte. Sie hängten weiße Tücher über die ramponierte Mauer und verhandelten mit Herzog Heinrich, während Silas dem Kaiser eine Schwerthiebwunde am Arm nähen musste. Der Löwe versprach ihnen ihr Leben gegen die Übergabe der Stadt und so viel von ihrer Habe, wie sie auf ihren Schultern aus der Stadt hinaustragen konnten. Es war ein langer Strom von abgehärmten Menschen, noch an die zwanzigtausend sollen es gewesen sein, die unter dem Hohn und Spott der Unseren ihre Festung verließen. Sie sind verzweifelt, doch haben sie ihr Leben, während sie die Leichen ihrer Brüder, Väter und Söhne zurücklassen müssen. Wer nicht in den umliegenden Dörfern unterkommt, wird vermutlich nach Mailand gehen. Seit gestern brennt die Stadt. Flammen lecken am Himmel und tauchten die letzte Nacht in ein schauriges blutrotes Licht, das wohl nicht nur in mir Gedanken an die Feuer der Hölle wachrief. Es ist ein trauriger und gleichwohl faszinierender Anblick, denn nun wird sich unser Alltag grundlegend ändern. Crema ist nicht mehr. Beißender Rauch hängt über unserem Lager, der Gestank nach verbranntem Fleisch kriecht selbst durch die Zeltwände, so dass es einem den Magen umdreht. Was kommt nun? Unsere Krieger feiern und brüsten sich stolz der Beute, die sie machen durften, bevor der Feuerteufel freigelassen wurde.«
    Leichtfüßig wie spielende Gaukler liefen die beiden Pferde über die vom letzten Regen noch feuchte Ebene. Unter ihren Hufen ließen sie kleine brachliegende Felder zurück und durchquerten Obsthaine mit dunkel glänzenden Zitronenbäumen. Nawar schüttelte seine Mähne im Wind, seine Muskeln spielten unter dem glatten Fell, doch er drosselte sein Tempo etwas, um in der Nähe der Stute zu bleiben. Widerwillig schnaubend kamen sie an einem Olivenhain unter den Händen ihrer Reiter zum Stehen. Schon lange nicht mehr hatten sie so ungezügelt laufen können.
    »Wollten wir nicht eigentlich nach Kräutern sehen?«, fragte Judith außer Atem.
    »Das hätte Nawar mir nie verziehen«, sagte Silas lachend.
    Sie saßen ab und ließen die Tiere grasen. Die Luft war hier draußen frisch und klar, sie roch nach Zitronen und irgendetwas Unbekanntem. Ein merkwürdiges Gefühl von Freiheit erfasste sie, als sie über das weite Land blickten. Wie lange waren sie in diesem beengten Lager eingesperrt, ständig den hässlichen Bildern des Kriegs ausgesetzt. Von hier sah Crema wie eine vernachlässigte Feuerpfanne aus. Noch immer griffen einzelne Rauchsäulen wie Geisterfinger nach den Wolken, die tief über der Flussebene dahinzogen. Im Osten brannte ein größeres Haus, über dem nördlichen Teil der Stadt flimmerte die Luft von aufsteigender Hitze. In den anderen Stadtvierteln hatte das Feuer seine Nahrung verzehrt. Die klaren Konturen des Feldlagers vor den zerstörten Mauern waren in Auflösung begriffen. Die spanischen Söldner hatten ihre Zelte abgebaut und auf Saumtiere verladen. Die englischen Bogenschützen waren gestern bereits abgezogen. Nur ein gelbes Stück Feld mit kalten Feuerstellen und überquellenden Abfallgruben erinnerte an sie.
    »Unser Zuhause löst sich in Luft auf«, bemerkte Judith. Sie war selbst erstaunt, wie wehmütig es klang. In den letzten Tagen hatte der Enthusiasmus eher freudige Stimmungen ausgelöst, überall im Lager war getanzt und gefeiert worden.
    »Zuhause?«
    »Na ja, irgendwie schon.« Sie setzte sich auf den Stamm eines entwurzelten Olivenbaums. »Für viele Wochen hatten wir hier Obdach und Beschäftigung.«
    »Ist ein Zuhause nicht da, wo man sich wohl fühlt?«
    Wusste er nicht längst, dass sie sich dort am wohlsten fühlte, wo er war?
    »Judith, seht!«, flüsterte Silas und winkte sacht mit der Hand. Sie trat vorsichtig neben ihn. Die Wurzeln des alten Baums ragten in die Luft wie die Borsten einer riesigen Striegelbürste. Erst nach genauem Hinsehen entdeckte sie in den Schlupfwinkeln dazwischen mehrere kleine Echsen, die dem knorrigen grauen Wurzelholz täuschend ähnlich sahen.
    »Eidechsen?«, fragte sie.
    »Geckos«, raunte er zurück, während er seine Finger zwischen das Holz zwängte und vorsichtig eines der Tiere herausnahm. Dann griff er nach ihrer Hand und

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