Das Geheimnis der Äbtissin
wie sollten sie anders denken als ihr Bruder? Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld zu erlangen hieß doch nur, die eigenen Knochen zu Markte zu tragen. Doch wofür? Für den Kaiser? Was wurde aus dem Reich, wenn der es nicht zusammenhalten konnte? Andere Völker würden kommen und sie beherrschen, sie wären wahrscheinlich Sklaven und Tagelöhner für fremde Menschen. So wie Silas, unfrei und ohne Rechte. Sie schloss die Augen. Es gab wohl keinen anderen Ausweg als Krieg. Nur der Stärkere blieb frei.
Am nächsten Morgen wollte sie endlich zum Straußberg reiten, um Sigena aufzusuchen. Sie packte als Geschenk zwei Bündel getrockneten Enzian und zerstoßene Katzenpfötchen in einen Korb. Swen sattelte ihre Stute.
»Ich begleite dich.« Isabella führte Gerti aus ihrem Verschlag. »Ich muss den kleinen Hengst ans Halfter gewöhnen. So ein Ausflug wird ihm gefallen.«
Erst jetzt sah Judith das halbwüchsige Fohlen, das sich an seine Mutter drängte. Es war dunkler als Gerti, so braun wie nasse Gartenerde, und auf seiner Stirn leuchtete ein weißer Fleck, der an einen Stern erinnerte.
»Hat er schon einen Namen?«, fragte sie und streichelte die flauschige Mähne, die steil in die Luft stand, was dem Kleinen ein verwegenes Aussehen gab.
»Ich nenne ihn Sternchen.«
»Das wird ihm später peinlich sein, wenn er ein ausgewachsenes Schlachtross ist.«
Isabella lachte. »Vielleicht muss ich mir bis dahin noch was anderes einfallen lassen.«
Gerti biss Judiths Stute eifersüchtig in die Kruppe, und sie beeilte sich, aufzusitzen. Draußen vor dem Tor übernahm Gerti die Führung. Das Fohlen folgte an einer langen Leine. Es musste lernen, in gleichbleibender Entfernung nebenherzulaufen und nicht voller Übermut ihren Weg zu kreuzen. Auf schmaleren Wegen sollte es sich hinter der Stute einordnen, anstatt neben ihr durchs Gestrüpp zu stolpern. Judith bewunderte die Geduld und die ruhige Hand, mit der Isabella den Wildfang immer wieder um Gerti herum lenkte.
Bald erreichten sie einen kleinen gerodeten Bergsporn, der gute Aussicht über das Land nördlich der Hainleite bot. Judith saß ab und ging bis zum Rand der Klippe. In der Ebene unter ihnen fiel sofort ein flacher Hügel mit einer sehr belebten Baustelle auf – Mönkelare. Der Anblick erinnerte an einen Ameisenhaufen, in den Beringar seinen Stock gestoßen hatte. Zwischen scheinbar ziellos laufenden Menschen und zahllosen Fuhrwerken wuchsen helle Mauern in den Himmel, teilweise verdeckt von wirren Gerüsten, die von hier oben wie kunstvoll verknotete Strohhalme aussahen.
»Schaut aus, als würden die Gerüste die Mauern stützen, damit sie nicht umfallen«, murmelte Judith.
»Nicht, wenn du es dir von unten ansiehst«, entgegnete Isabella. »Die Mauern sind wirklich mächtig.«
Sie saßen wieder auf und ritten gegen einen frischen Wind, der die Mähnen ihrer Stuten flattern ließ und der ihnen helle Klopfgeräusche entgegentrug.
»Was ist das für ein Krach?«, rief Judith.
Isabella zügelte Gerti und ließ sich zurückfallen. »Der Steinbruch. Wir reiten direkt darauf zu.«
Bald klangen die Schläge lauter. Große Leiterwagen, die von Ochsenpaaren gezogen wurden, kamen ihnen den Berg hinauf entgegen. Kurz vor ihnen bogen die Wagen ab und fuhren auf das Zentrum der Geräusche zu. Neugierig lenkte sie ihre Stute hinterher. Hinter einer Gruppe Buchen tat sich ein Loch im Berg auf, als hätte ein hungriger Riese einen Happen herausgebissen. Aus den dunklen Grüntönen des Waldes leuchtete heller Kalkstein wie ein Hühnergelege im Gras. Die Ochsengespanne fuhren einen leicht geneigten Weg hinab und reihten sich am Grunde der riesigen Grube auf. An den nackten Felswänden hangelten sich Holzgerüste hinauf, auf denen Männer Hämmer schwangen und Keile zwischen die Gesteinsschichten trieben. Am Fuß der Gerüste lagen große Steinquader, wohl die Arbeit des vergangenen Tages. Die Arbeiter befestigten Holzrampen an einem Wagen und zogen mit Hilfe von Seilen und Rollen die Brocken auf die Ladefläche. Sie zählte ein Dutzend Steine auf dem Fuhrwerk, dessen Knecht die Ochsen jetzt im Kreis herumführte und den Rückweg ansteuerte. Gemächlich stemmten sich die kräftigen Tiere ins Joch. Die Last schien ihnen nichts auszumachen. Lediglich die Holzräder des Karrens ächzten, als die Fuhre vorbeirumpelte. Gutmütige schwarze Augen schauten aus breiten Köpfen. Der Mann, der eines der Tiere am Zaum führte, zog seine Filzkappe vom Kopf und verbeugte sich flüchtig im
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