Das Geheimnis der Äbtissin
Knochenbrüchen an der rechten Hand und am Fuß sowie einer schmerzhaften Beule am Kopf davongekommen. Ludwig hatte sie gleich zum Straußberg bringen lassen, zum einen wegen Sigena, zum anderen, um sie vor Konrad zu schützen. Als sie dort aufwachte, konnte sie sich tatsächlich an nichts erinnern, ein Umstand, den Ludwig schnell verbreiten ließ. Als mit einsetzender Genesung auch das Gedächtnis wiederkehrte, beschlossen sie, niemandem davon zu erzählen.
»Ich werde unauffällig dafür sorgen, dass deinen Brief an Vater auch der Bischof liest. Das dürfte genügen, ihn weiterhin in Sicherheit zu wiegen. Wenn du erst in Eschwege bist, wird er dich bald vergessen.«
Er seufzte und wandte sich Beringar zu. »Und du, Bürschchen, schwörst bei allem, was dir heilig ist, dass du niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen erzählst. Du hast dein Leben und das deiner Schwester in der Hand.«
Beringar schob trotzig die Unterlippe vor.
»Ich finde, er hat bisher bewiesen, dass auf ihn Verlass ist. Wir können ihm vertrauen.« Judith zog ihn enger an sich.
»Und Vater?«, fragte Beringar. »Soll ich nicht mit ihm reden?«
»Vorerst nicht. Wenn unser Plan nicht aufgeht, das heißt, wenn deiner Schwester oder mir etwas zustoßen sollte, dann bist du von dem Eid entbunden. Dann wirst du Vater alles sagen. Hast du verstanden?«
»Ja.« Beringar stand auf und legte mit ernsthafter Miene seine rechte Hand auf sein Herz.
»Was ist?«, fragte Ludwig.
»Der Schwur«, erinnerte Beringar.
Judith verbarg ihr Grinsen hinter der Hand.
»Ach so!« Ludwig warf ihr einen warnenden Blick zu und nahm seinem Bruder mit ernster Miene den Eid ab.
»Aber jetzt los. Zum Abendessen müssen wir zurück sein. Dann kann ich Vater den Brief gleich vor aller Augen überreichen.« Er schob das Pergament in eine Lederrolle, die er an seinem Gürtel befestigte.
»Sag mal«, Judith fasste nach seinem Arm, »wann soll denn Beatrix’ Kind geboren werden?«
Ludwig hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Gerlind sagt, es kommt im Winter! An Maria Lichtmess!«, erklärte Beringar altklug.
Judith lachte. »Warum frage ich dich nicht gleich?«
»Wetten, dass dieses Kind sich ein wenig länger Zeit lässt?«, murmelte Ludwig undeutlich.
»Nun, sie wird sich beeilen müssen, wenn sie Ende März mit nach Mailand ziehen will«, vermutete Judith.
Am nächsten Tag fiel ein leichter Regen auf die Mauern vom Straußberg und brachte einen kühlen Vorgeschmack auf den Herbst. Judith stand, auf ihre Krücken gestützt, am Fenster und grübelte. An den Gedanken, Lare verlassen zu müssen, konnte sie sich noch immer nicht gewöhnen. Doch sie hatte inzwischen akzeptiert, dass es keine andere Möglichkeit gab. Selbst wenn Beatrix und Konrad weiterzogen, für sie war kein Platz auf der Burg ihres Vaters. Die Option, einen fremden alten Mann zu heiraten, gefiel ihr noch weniger. Zum Glück hatte der Graf von Tonna das Interesse verloren, nachdem es Gerüchte gab, sie sei nach dem Sturz nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Ihr Vater schien das gelassen zu nehmen, immerhin hatte er eine neue Vorstellung von ihrer Zukunft. Das Damenstift in Eschwege unterstand seiner Gerichtsbarkeit. Eines Tages könne sie sogar Äbtissin sein, hatte er gemeint. Einem Kloster vorzustehen war eine verlockende Aufgabe, vor der sie sich nicht fürchtete. Im Gegenteil, ein wenig freute sie sich darauf, in diesem Punkt hatte sie im Brief an ihren Vater die Wahrheit geschrieben. Sie besaß umfassende Kenntnisse in der Heil- und Kräuterkunst, und sie war fähig, einen großen Haushalt zu leiten, das hatte sie auf Lare bewiesen.
Ein Wermutstropfen war da freilich noch, der ihr die Entscheidung nicht leicht werden ließ. Wenn sie erst Nonne war, würde sie gewiss nie mehr Gelegenheit haben, Silas wiederzusehen. Sie wusste nicht, ob sie mit diesem Gedanken würde leben können. In den letzten Tagen hatte sie sich jedoch dafür entschieden, es wenigstens zu versuchen. In ihrer Situation blieb ihr keine Wahl.
Der Türmer auf dem dicken runden Bergfried blies ein Willkommenssignal. Sie beugte sich über den regenfeuchten Mauersims. Wer konnte das sein? Bald erkannte sie einen kleinen Trupp Reiter mit Lare’schen Soldaten. Ihr Vater führte sie an. Als er über die Zugbrücke ritt, winkte sie ihm zu. Doch er blickte nicht auf. Zielstrebig lief er zum Palas. Judith griff nach ihren Krücken und humpelte zur Tür. Er sollte sehen, welche Fortschritte sie gemacht hatte.
Als sie die Treppe
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