Das Geheimnis der antiken Kette
abfährt.«
Miss Ella verschränkte die Arme und musterte Rue missbilligend. »Tut mir leid, Farley.« Ihre Stimme klang schrill. »Ich habe kein einziges Zimmer mehr frei.«
»Dann wird sie wohl bei mir wohnen müssen«, meinte Farley resigniert. Damit ergriff er Rue wieder am Arm und schob sie zurück zu dem Türchen.
Miss Ella brauchte nur ein paar Sekunden, um die Folgen zu überdenken. Ihre harten Lederabsätze klackten auf den Brettern der Veranda, als sie Farley und Rue nacheilte. »Warten Sie!«, rief sie. »Da ist noch Mamas altes Nähzimmer … Man müsste nur ein paar Schrankkoffer hinaustragen.«
Rue lächelte in sich hinein, obwohl es ihr irgendwie gefallen hätte, Farleys Gast zu sein.
Farley blinzelte ihr zu, wodurch ihr Herz für mindestens fünf Schläge aussetzte, und wandte sich wieder zu Miss Ella. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er herzlich.
Zum ersten Mal fiel Rue auf, dass Farley Haynes sich für einen Kleinstadt-Marshal des 19. Jahrhunderts sehr gut ausdrückte. Tausend Fragen schössen ihr durch den Kopf.
Er begleitete die Ladys nur bis zur Veranda, zog dann an seiner Hutkrempe und ging mit einem höflichen Gruß.
Rue fühlte sich wie auf einem fernen Planeten ausgesetzt.
Miss Ellas Augen blickten nicht freundlich drein, als sie die Tür öffnete und in das kleine blaue Haus hineinfegte. »Das macht einen Dollar im Voraus«, sagte die alte Jungfer.
Rue holte die Banknote hervor.
»Danke«, erwiderte Miss Ella spröde. »Ich mache Ihr Zimmer fertig.« Die Vermieterin verschwand und kam überraschend schnell wieder für jemanden, der erst Schrankkoffer aus einem Nähzimmer tragen musste. Natürlich hatte Rue gewusst, dass in diesem Haus die Betten gar nicht knapp waren.
Rues Zimmer war schrankgroß und unter die Treppe gequetscht. Es gab wenig Licht und noch weniger Luft. Jemand hatte die Wände mit scheußlichen grellen Rosen auf grünem Grund tapeziert. Es sah aus, als habe ein Kind von der Schwelle aus überreife Tomaten gegen die Wände geworfen.
»Abendessen um sieben«, verkündete Miss Ella. »Seien Sie bitte pünktlich! Papa ist stets hungrig, wenn er von einem Tag in der Bank heimkommt.«
Rue nickte und stellte ihre Tasche an den Fuß des schmalen Betts, das nicht bequemer aussah als die Pritsche im Gefängnis von Pine River.
»Danke. Wo ist das Badezimmer?«
»Es gibt ein Nachtgeschirr unter dem Bett«, erwiderte die Vermieterin verwirrt. »Und zum Baden … nun, jede Mieterin kann an einem bestimmten Abend in der Küche baden. Sie sind an der Reihe …« Sie tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen, während sie überlegte. »Donnerstag.« Miss Ella ging hinaus und schloss die knarrende Tür hinter sich.
Rue holte ein Taschentuch hervor, streckte sich auf dem unbequemen Bett aus und seufzte. Sie hatte in schlimmeren Unterkünften gehaust, obwohl sich die meisten in Ländern der Dritten Welt befunden hatten.
Irgendwo zwischen Kapitel vier und fünf döste Rue ein. Als sie erwachte, wusch sie sich das Gesicht mit lauwarmem Wasser aus einem angeschlagenen Krug, teilte ihre Schokoriegel aus der Tasche ein, aß einen und fand im Wohnzimmer eine junge Frau, die sich als Miss Alice McCall vorstellte und ihr ein langes Wollcape lieh. Dankbar wickelte Rue sich gegen die abendliche Kälte darin ein und ging nach draußen.
Es gab in dieser Version von Pine River keine Straßenlampen und selbstverständlich auch keine Neonschilder. Das blaugraue Flackern von Fernsehern hinter Fenstern fehlte. Dafür verstrahlten Öllampen einen züngelnden Schein.
Eine niederschmetternde Woge der Einsamkeit traf Rue, und sie war sich schmerzlich bewusst, dass die Lichter hinter diesen dicken Glasscheiben nicht für sie leuchteten.
Sie war hier eine Fremde.
Im Stadtzentrum drang der goldene Schimmer von Lampen zusammen mit wilden Tönen des Klaviers aus den Fenstern des Saloons auf die Straße. Rue wurde nicht von Alkohol angezogen, sondern von Licht und Musik.
Das plötzliche Aufflackern eines Streichholzes erschreckte sie. Farley lehnte an der Wand der Futtermittelhandlung, das zuverlässige Gewehr neben sich, und rauchte eine dünne, braune Zigarre.
»Halten Sie nach einem Pokerspiel Ausschau?«, fragte er trocken.
Rue warf ihren Kopf hoch, um ihm zu zeigen, wie viel Verachtung sie für seine Frage empfand, und deutete dann auf die Zigarre. »Diese Dinger werden Sie umbringen.«
Er schüttelte leise lachend den Kopf. »Sie haben wohl zu allem eine vorgefasste
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