Das Geheimnis der Apothekerin
ernst.
Lilly holte tief Luft und ballte die Hände zu Fäusten. Dann ging sie langsam auf die Gartenmauer zu. Würde ihre Mutter sie erkennen, wenn sie näher kam? Sie ließ das Täschchen an ihrem Handgelenk baumeln und legte beide Hände auf die taillenhohe Steinmauer.
»Ja, bitte?«, fragte Rosamond Haswell in zuvorkommendem Ton.
»Guten Tag, Mutter«, sagte Lilly ruhig.
Die Frau starrte sie nur an.
Der kleine Junge fragte: »Wer iss die Dame?« Er hatte ein entzückendes Lispeln.
Das Mädchen hatte den Kopf gesenkt, sodass Lilly ihr Gesicht nicht sehen konnte.
»Sitz gerade, Liebling, und begrüße unseren Gast«, sagte Lillys Mutter zu dem Mädchen. Doch es ließ nicht erkennen, ob es verstanden hatte. Es war entweder sehr schüchtern oder sehr ungezogen.
Lilly schluckte schwer und sagte einfach, was ihr in den Sinn kam. »Ich dachte, du seist hier die Haushälterin?«
Ihre Mutter betrachtete sie immer noch, vom Hut bis zur Taille und wieder hinauf. »Das war ich. Die Gouvernante ist krank.« Sie zuckte die Achseln. »Außerdem mag ich Kinder. Manche jedenfalls …«
Lilly hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen schweren Schlag in den Magen versetzt.
Plötzlich blickte das kleine Mädchen auf. Es sah ganz genauso aus, wie Lilly in dem Alter ausgesehen hatte. Es starrte sie an und streckte ihr die Zunge heraus.
Lilly fuhr im Bett hoch. Sie atmete schwer und schwitzte, während der Traum langsam verblasste. Ihr war schlecht, sie fühlte sich krank. Leise zog sie ihren Morgenmantel an und schlich hinüber zu Charlies Zimmer. Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, öffnete sie die knarrende Tür. Charlie schlief fest. Das Mondlicht schien ins Zimmer und sie sah, dass er die Hände unter der Wange gefaltet hatte. Sein blondes Haar fiel ihm über die Brauen und lag auf dem Kissen.
Sie ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer und beugte sich über ihn. Dann streckte sie die Hand aus und strich ihm sanft das Haar aus der Stirn.
Sie musste unbedingt jemanden berühren, der real war.
Am nächsten Morgen machte Lilly sich auf die Suche nach dem Miniaturbild ihrer Mutter. Sie fand es schließlich in einer Schublade im Wohnzimmer, eingewickelt in braunes Papier. Vorsichtig entfernte sie das Papier, blies den Papierstaub ab und betrachtete das liebliche Gesicht, das dem, das sie letzte Nacht im Traum gesehen hatte, so sehr glich. Das Miniaturbild war vor Rosamonds Heirat, also vor über zwanzig Jahren, gemalt worden. Lilly fragte sich, wie sehr ihre Mutter sich seither wohl verändert hatte; und sie wusste, dass sie sich das immer fragen würde.
Lilly steckte das Bildchen in ihre Schürzentasche; sie wollte es bei sich haben. Mit einem Mal wusste sie, dass sie der Information, die ihr Onkel erhalten hatte, nachgehen würde. Als Erstes würde sie einen Brief schreiben. Dann würde man weitersehen.
Eine Stunde später saß sie bereits im Laden, den Federhalter in der Hand, und beugte sich über einen Bogen Briefpapier, als Francis eintrat. Er wollte Kräuter abholen, die Mr Shuttleworth benötigte. Lilly hatte sie bereits gebündelt, beschriftet und in einer Kiste bereitgestellt.
»Ausgezeichnet. Ist das alles?«, fragte Francis.
»Hmmm?«, murmelte sie zerstreut.
»Ist das alles? Mr Shuttleworth wollte …«
»Oh.« Sie blickte zu ihm hoch, dann auf die Kiste. »Ja.« Dann sah sie wieder auf die wenigen Zeilen, die sie geschrieben hatte. »Francis, du hast meine Mutter nie kennengelernt, nicht wahr?«
Er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich wunderte er sich, dass sie fragte, wo sie die Antwort doch kannte.
»Nein. Sie ist ja lange, bevor ich hierherkam, weggegangen.«
Lilly nickte und tippte beim Nachdenken mit dem Federhalter gegen das Tintenfass.
»Ich erinnere mich an ein kleines Porträt von ihr«, sagte Francis. »Du hattest es immer bei dir, bis dein Vater dich bat, es wegzupacken.«
Lilly nickte wieder und dachte daran, wie sie das Bild eines Tages verpackt in der Schublade gefunden hatte. Aus den Augen.
»Ich glaube, sie war sehr hübsch«, fuhr Francis fort. »Du musst ihr sehr ähnlich sehen.«
Schweigend zog sie die Miniatur aus der Schürzentasche und schob sie ihm über die Theke hin. Er beugte sich vor und betrachtete sie. »Ja, du siehst ihr wirklich sehr ähnlich!«
Sie erzählte ihm von der Halskette ihrer Mutter und von Rosa Wells . Irgendwann nahm er ihre Hand und drückte sie fest, die braunen Augen voller Mitgefühl. Plötzlich quietschte die Tür der Labor-Küche. Francis
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