Das Geheimnis der Apothekerin
nichts Angst?«
Sie überlegte. »Jeder Mensch hat vor irgendetwas Angst. Oder vor irgendjemand.«
»Wovor haben Sie Angst?«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Warum? Fühlen Sie sich besser, wenn Sie das wissen?«
»Erheblich besser.« Er bückte sich, um seinen Hut aufzuheben, und versuchte, ihn in seine alte Form zu bringen. »Jedenfalls wird es mich von meiner Demütigung ablenken.«
»Nun gut. Aber Sie dürfen es niemandem sagen.«
»Natürlich nicht.«
Sie lachte trocken. »Ich würde lieber zehn Mal diesem Hund begegnen als ein einziges Mal seinem Herrn.«
Seine Hände erstarrten. »Roderick Marlow?«
Sie nickte.
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Stattdessen wirkte er alarmiert. »Hat er Sie bedroht? Hat er Ihnen etwas getan?«
»Nein, nichts, das irgendwelche Folgen hatte, aber …«
»Hat er sich Ihnen gegenüber ungebührlich benommen?«
»Dr. Graves! Ich wollte Sie durch mein Bekenntnis trösten und nicht noch mehr beunruhigen!«
»Aber Miss Haswell!«
»Es gab ein paar Gelegenheiten, bei denen ich mich ein bisschen … bedroht fühlte, wie Sie es bezeichnen. Aber das ist lange her. Ich denke, es ist das Gleiche wie bei Ihnen – ein Biss und man ist sein Leben lang auf der Hut.« Sie beeilte sich hinzuzufügen: »Das habe ich natürlich bildlich gemeint. Er hat mich nicht wirklich gebissen.« Wieder versuchte sie, der Situation mit einem Lächeln die Schärfe zu nehmen, aber er blickte immer noch sehr streng drein.
Dr. Graves sagte: »Ich weiß, dass er einmal fast einen Menschen getötet hätte. Bei einer Schlägerei oder einem Duell oder so.«
Das hatte er getan? Sie hatte noch nie davon gehört.
»Wenn er Sie noch einmal bedroht oder belästigt, Miss Haswell, dürfen Sie das auf keinen Fall hinnehmen. Sie müssen es jemandem sagen. Mir zum Beispiel.«
Sie fragte sich kurz, was Dr. Graves in diesem Fall wohl tun würde. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er mit Roderick Marlow kämpfen würde. Dr. Graves würde mit Sicherheit jedes Duell, das nicht mit Skalpell oder Hörrohr ausgetragen wurde, verlieren.
»Danke. Aber wie ich schon sagte, liegt es lange zurück. Vergessen Sie es einfach.«
»Haben Sie es vergessen?«
»Ganz und gar. Solange ich ihn nicht sehen muss.« Sie lächelte spitzbübisch. »Oder solange er nicht angekettet ist.«
Seine blauen Augen funkelten plötzlich und er grinste ebenfalls – ja, er lachte sogar laut auf. Es war das erste Mal, dass er einen Anflug von Heiterkeit zeigte, und es gefiel ihr sehr.
Als nach etwa einer Woche die Antwort aus Craybill Hall eintraf, traute Lilly sich nicht, den Brief zu öffnen. Die Ablehnung, die er mit Sicherheit enthielt, würde sie nicht ertragen. Wie oft hatte sie sich mögliche Antworten ausgemalt. Zum Beispiel die kühlen, reservierten Worte: » Es tut mir leid, dir zu sagen, dass ich kein Interesse habe, dich wiederzusehen. « Oder: » Ich bitte dich, mir nicht mehr zu schreiben. Ich möchte meine Stellung hier nicht gefährden. « Oder sogar: » Wenn ich dich sehen wollte, wüsste ich ja, wo ich dich finde, nicht wahr? «
Aber wie kam sie zu dem Glauben, die Antwort könnte herzlicher ausfallen? » Wie habe ich mich gesehnt, von dir zu hören! Doch einen Brief zu erhalten, den du mit eigener Hand geschrieben hast – was für eine vornehme junge Dame muss aus dir geworden sein! Ich würde dich so gerne wiedersehen. Ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass du mich noch jemals wiedersehen möchtest … «
Wie würde die Antwort ausgefallen sein?
Sie drehte das Ladenschild um und eilte hinüber ins Kaffeehaus. Jane, die auf der Gartenbank saß und Bohnen enthülste, nahm sie gar nicht wahr. Sie stürmte durch die Hintertür in die Küche und warf den Brief vor Mary auf den Tisch.
»Lies. Ich kann nicht.«
Mary mahlte gerade Kaffeebohnen, hielt aber inne und sah sie an. Dann wischte sie sich die Hände an einem Tuch ab. »Was ist das?«
»Von meiner Mutter, glaube ich. Ich habe an das Haus geschrieben, in dem sie anscheinend angestellt ist.«
Mary legte das Tuch beiseite und nahm den Brief in die Hand. »Er ist an dich adressiert.«
»Bitte.«
Mary sah sie noch einmal an und nickte dann. Sie erbrach das Siegel und faltete den Brief auseinander. Während sie ihn rasch überflog, zeigte ihr Gesicht zunächst Überraschung, dann jedoch Sorge.
»Sie will mich nicht sehen, oder?« Lilly schlang die Arme um sich.
Mary schüttelte den Kopf.
Lilly stöhnte. Ich wusste es .
»Der Brief ist nicht von deiner
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