Das Geheimnis der Apothekerin
gibt da etwas, das du meiner Ansicht nach doch wissen solltest. Ich habe nämlich weitere Informationen erhalten.
Erinnerst du dich noch an Mrs Browning, die Dame, die die Wohnung in der Fleet Street an eine »Rosa« vermietet hatte? Und erinnerst du dich auch, dass ich ihr meine Karte daließ? Ich muss zugeben, damals dachte ich, dass die Karte gleich im Kamin landet und wir nie mehr von der Frau hören. Doch nun habe ich heute tatsächlich einen Brief von ihr erhalten – wenn man das Gekritzel so nennen darf. Das Porto habe ich natürlich gern bezahlt, wie du dir denken kannst.
Wie ich es verstehe, hat Mrs Browning deiner Mutter, will heißen, dieser »Rosa«, vor langer Zeit ein Empfehlungsschreiben gegeben. Nun hat sich offenbar ein potenzieller Arbeitgeber kürzlich an Mrs Browning gewandt und nachgefragt, ob sie bestätigen könne, dass Rosa sich für die angebotene Stellung eignet.
Ich nehme an, es geht dir wie mir und du wirst es kaum glauben können: Rosamond – eine Haushälterin? Auf jeden Fall ist die Spur nicht mehr kalt, falls du sie weiter verfolgen möchtest … Natürlich weiß ich nicht, ob Rosa diese Stellung tatsächlich bekommen hat, doch ich halte es für wahrscheinlich angesichts Mrs Brownings Überzeugung, dass sie dem Mann einen »Briehf geschriebn hatt, wo in sicher schwer beeindrukt«. Das wäre durch eine schriftliche Anfrage an den Verwalter oder Butler natürlich leicht herauszufinden. Die Adresse habe ich beigefügt. Lass mich wissen, ob du möchtest, dass ich etwas in der Sache unternehme.
Ergebenst,
Mr Jonathan Elliott
Lilly entfaltete das beigefügte Schreiben mit dem Namen des Landsitzes und der Adresse. Es war in Surrey, südlich von London. Einerseits wäre sie am liebsten sofort hingefahren, andererseits hielt sie den Zeitpunkt nicht für günstig. Ihrem Vater ging es nach wie vor nicht gut und sie konnte es sich kaum leisten, die Apotheke zu schließen. Immerhin wäre es keine weite Reise. Sie konnte die Postkutsche nehmen und in zwei Tagen wieder zurück sein.
Die Mietdroschke brachte sie bis ans Ende der Straße. Von dort aus ging sie zu Fuß, durch das Tor und dann die geschwungene, gepflasterte Auffahrt hinauf. Craybill Hall war größer und lag weiter außerhalb der Stadt, als sie gedacht hatte.
Lilly umklammerte krampfhaft ihr Täschchen, obwohl ihr bewusst war, dass ihre feuchten Handflächen den feinen Satin verderben würden, doch das war ihr im Moment völlig gleichgültig. Sie holte tief Luft. Die Übelkeit, die sie empfand, kam, wie sie sich einzureden versuchte, von dem langen Reisetag, erst mit der Kutsche und dann mit der holprigen alten Droschke. Sie presste eine Hand auf den Magen in der Hoffnung, damit ihre Nerven ein bisschen zu beruhigen. Wie würde ihre Mutter reagieren, wenn sie sie sah? Wenn sie merkte, dass sie Nachforschungen angestellt hatten, obwohl sie sich ganz offensichtlich keinerlei Mühe gegeben hatte, mit der Familie, die sie zurückgelassen hatte, in Kontakt zu bleiben. Dachte ihre Mutter vielleicht, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten? Wenn ja, dann würde sie sich über ihren Besuch vielleicht nicht gerade freuen, aber doch erleichtert sein zu erfahren, dass es ihrer Tochter gut ging.
Unten an der breiten Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte, blieb Lilly stehen. Sie betete um Weisheit und Frieden und darum, dass ihre Beine aufhörten zu zittern. Sie hörte ein Geräusch, ein Lachen mehrerer Stimmen. Irgendetwas daran kam ihr vertraut vor. Wie auf eine Eingebung hin drehte sie sich um und ging um das Haus herum, geleitet von dem Lachen wie von einer Schiffsglocke im Nebel.
Hinter dem Haus sah sie eine niedrige Gartenmauer. Dahinter standen auf einer makellosen Rasenfläche ein kleiner Tisch und Stühle. Am Tisch saßen zwei Kinder, ein kleiner Junge mit goldenem Haar und ein etwas älteres Mädchen mit rotblonden Locken. Und zwischen den beiden stand – lächelnd – ihre Mutter. Sie sang laut Backe-backe-Kuchen und die Kinder klatschten dazu in die Hände.
Wie jung und hübsch ihre Mutter aussah! Sie trug ein blauweißes Ausgehkleid, ihr dunkles Haar war zu einer modernen Hochsteckfrisur zurückgenommen. Wo ist denn ihr Hut? , fragte Lilly sich. Sie sollte nicht ohne Hut aus dem Haus gehen . Dann schalt sie sich selbst für eine so dumme Überlegung. Mitten im Spiel blickte ihre Mutter plötzlich auf und sah sie stehen. Jedenfalls sah sie jemanden dastehen. Sie hörte auf zu singen; ihr Gesicht wurde
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