Das Geheimnis der Apothekerin
grimmig verzogenen Mund und den ernsten blauen Augen zu erraten.
»Er hat vor zwei Jahren geheiratet.« Graves zog einen Zettel aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Eine deutsche Frau, so steht es hier jedenfalls. Eine Gertrude Kistinger, jetzt Wells.«
Er gab ihr den Zettel und sie las ihn schweigend. Er sah sie erwartungsvoll an und legte dann den Kopf schräg. Offenbar war ihre Reaktion nicht so, wie er es erwartet hatte.
»Ist das etwa keine gute Nachricht? Ihre Mutter ist nicht, wie Sie befürchtet hatten, bei Wells.«
War das eine gute Nachricht? Bedeutete denn die Tatsache, dass sie jetzt nicht mehr bei Wells war, dass sie nie bei ihm gewesen war? Und wo war sie jetzt? Das hauchfeine Bindeglied zu ihrer Mutter – wenn man es überhaupt ein Bindeglied nennen konnte, war zerrissen worden, so leicht, wie man eine Spinnwebe zerreißt.
»Vielen Dank, dass Sie für mich nachgeforscht haben.« Sie fragte sich jedoch, ob er es getan hatte, um ihr zu helfen, oder nicht vielmehr, um das Ausmaß des Skandals, der ihm möglicherweise drohte, besser abschätzen zu können.
»Ich dachte, Sie freuen sich«, sagte er hoffnungsvoll. »Das kann nun nicht mehr zwischen uns stehen.«
Sie blickte auf, in seine blauen Augen, die sie voller Wärme ansahen, und in sein engelhaftes Gesicht und spürte, wie ihr eigenes Gesicht – und Herz – warm wurden. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht stand jetzt wirklich nichts mehr zwischen ihnen.
Die Ladenglocke ertönte und Lilly trat einen Schritt zurück. Hannah Primmel kam schüchtern in den Laden.
»Hallo, Hannah«, sagte Lilly und ging zur Theke. Sie hoffte, dass Hannah ihr Erröten nicht gesehen hatte oder sich zumindest nichts dabei dachte.
»Hallo, Miss Haswell.« Das arme Mädchen litt unter einer Haut, die ständig mit Pickeln übersät war, und hatte deshalb von grausamen Gassenjungen die Spitznamen Karbunkel-Gesicht und Hannah Pickel bekommen. Als sie Dr. Graves sah, senkte sie automatisch den Kopf, wie sie es immer tat, als könne das verhindern, dass die Menschen ihr Gesicht sahen.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Lilly. »Ich hatte gehofft, dass du vorbeikommst.«
Hannah blickte erwartungsvoll auf. »Wirklich?«
»Ja.« Lilly beugte sich zu ihr und sagte in vertraulichem Ton: »Ich habe da etwas und würde mich freuen, wenn du es einmal ausprobieren würdest.«
Das erwartungsvolle Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe nicht viel Geld.«
»Das ist eine Probepackung. Wende es erst einmal vierzehn Tage lang an und berichte mir dann, wie es gewirkt hat. Kannst du das für mich tun?«
Hannah lächelte. »Natürlich. Danke, Miss Haswell.«
»Danke mir später – wenn du mit dem Ergebnis zufrieden bist.«
Als Hannah gegangen war, kam Dr. Graves zur Theke und fragte ruhig: »Was haben Sie ihr gegeben?«
Lilly seufzte. »Weder Gowlands Patentmittel noch Kamille haben die Besserung gebracht, die ich mir erhoffte. Jetzt habe ich ihr eine Salbe aus Zitronensaft, Rosenwasser und Silber gegeben.«
»Culpepers Allheilmittel«, sagte er.
»Ja. Culpeper hat zwar auch empfohlen, das Gesicht morgens mit frischer Butter einzureiben, doch das schien das Problem stets nur zu verschlimmern, wie ich feststellen musste, wenn ich einen solchen Anfall hatte.«
»Sie, Miss Haswell? Ich hätte gedacht, dass Sie immer schon vollkommen waren.«
Sie sah ihn an, überrascht, dass er diese Schmeichelei nicht mit einem Lächeln sagte. Doch sein Gesicht war völlig ernst.
»Im Übrigen«, fügte er hinzu, »sollten Sie vielleicht etwas vorsichtig sein, wenn Sie ein Arzneimittel verordnen.«
Die Wärme, die sie gerade noch empfunden hatte, verwandelte sich in Ärger. »Ich habe nichts verordnet. Es ist ein ganz einfaches, bekanntes Mittel.«
»Ich möchte Sie ja nur warnen. Eine Frau, die Arzneien anmischt, ist eine Sache, doch sie zu verschreiben, eine ganz andere. Wenn Dr. Foster das hier gesehen hätte, hätte er wahrscheinlich gedacht, dass Sie Ihre Kompetenzen überschreiten. Er hätte …« Er verzog das Gesicht. »Seien Sie einfach vorsichtig.«
29
Ich träume lieber von der Zukunft, als mich mit
Geschichten aus der Vergangenheit zu befassen.
Patrick Henry
Lilly bekam überraschend einen Brief von ihrem Onkel, was sie in Sorge, ja in Angst versetzte, denn sie hatte erst vor einigen Tagen ein Schreiben aus London erhalten. Sie hoffte sehr, dass es den Elliotts gut ging.
Meine liebe Lillian,
ich weiß, dass wir nicht mehr über deine Mutter reden wollten, aber es
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