Das Geheimnis der Apothekerin
lieber nicht an angenehme Erinnerungen zurückdenken sollte, weil die Gegenwart dem Vergleich nicht standhielt.
Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, Lilly Haswell , rief sie sich zur Ordnung. Entschlossen ging sie zu der kleinen Gruppe Lilien an der Gartenmauer, pflückte eine gelbe Blüte und steckte sie sich hinter's Ohr. Sofort ging es ihr besser.
»Du bist aber früh auf.« Francis' Oberkörper erschien über der Gartenmauer und sie fühlte sich gleich noch ein bisschen besser.
Er stieß das Gartentor mit der Hüfte auf, weil er keine Hand frei hatte. Als Lilly das Paket sah, das er in den Händen hielt, empfand sie freudige Neugier und musste ein Lächeln unterdrücken.
»Ich habe dir etwas mitgebracht. Ich hoffe, Dr. Graves hat nichts dagegen.«
Doch, das hätte er , dachte sie, sagte aber nichts. Und sie hatte geglaubt, dass alle es vergessen hätten. Ihr Vater jedenfalls hatte nicht daran gedacht und Mary hatte auch kein Wort gesagt. »Wie lieb von dir, Francis. Komm rein.«
Er folgte ihr ins Haus und Lilly deutete fragend auf die Küchentür. »Hier oder …?«
»Im Laden, bitte.«
Sie ging voran und trat beiseite, während er das umfangreiche Paket auf die Ausgabetheke legte. Dann winkte er sie mit der Hand heran. »Komm schon und sieh nach.«
Lächelnd entfernte sie das braune Papier. Ihre Augen wurden groß, als sie sah, was darunter war. Keine Geschenkschachtel, sondern ein Käfig. Ein Käfig mit einem pelzigen Bewohner.
Sie runzelte die Stirn. »Es ist eine Ratte.«
»Keine Ratte, ein Meerschweinchen. Cavia porcellus .«
»Sieht aus wie eine Ratte.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Aber ein bisschen hübscher, das stimmt.« Das langhaarige Tier hatte weiße und karamellfarbene Flecken und engstehende Augen.
»Dr. William Harvey hat sie in seinen Forschungsprojekten benutzt.«
»Harvey …« Lilly überlegte. »Der Erste, der das Kreislaufsystem korrekt beschrieben hat?«
»Genau.«
»Ich erinnere mich nicht, dass ein – wie hast du es genannt? – Meerschweinchen erwähnt wurde.«
»Ich glaube, er hat sie in seinen Schriften als Versuchstiere bezeichnet.«
Sie spähte in den Käfig. »Das kleine Ding da ist wohl kaum ein Schwein. Es sieht drollig aus.«
»Mr Shuttleworth hatte eins auf seinen Reisen als Schiffsarzt dabei. Er hat ihm neue Arzneien verabreicht, vor allem Mittel, die aus fremden Ländern stammten, bevor er sie Kranken gab.«
»Und du dachtest, ich soll …«
»Na ja, da er ganz auf sich gestellt war, ohne Kollegen, mit denen er seine Behandlungen oder Dosierungen diskutieren konnte, hielt er es für eine ratsame Vorsichtsmaßnahme.«
Lilly war zunehmend pikiert. »Und hat er jetzt immer noch ein Meerschweinchen?«
»Nein«, lächelte Francis. »Er hat mich.«
»Du weißt sehr gut, dass viele Gifte nicht sofort wirken.«
»Es soll ja keine narrensichere Sache sein. Nur eine Vorsichtsmaßnahme gegen die schädlichsten Substanzen.«
Sie schnaubte und knüllte das Papier zusammen.
»Komm schon, Lilly, sei nicht beleidigt. Ich dachte doch nur … Ich weiß, dass du es nicht zugibst, aber du bist hier doch meistens auf dich allein gestellt. Ich weiß auch, dass du dich an alles erinnerst, was du mal gelernt hast. Aber manches hat sich seither geändert. Es gibt neue exotische Arzneimittel, neue Methoden.«
Jetzt bezweifelte sie, dass Francis sich überhaupt an ihren Geburtstag erinnert hatte. Vielleicht war es purer Zufall, dass sie das Geschenk heute bekommen hatte.
Er versuchte es anders. »Vor allem dachte ich, dass es ein niedliches kleines Ding ist. Königin Elisabeth hielt sich eins als Haustier.«
»Ach wirklich?«
Er nickte.
Sie blickte von ihm zu dem Meerschweinchen und wieder zurück. »Eine Katze wäre mir lieber gewesen.«
»Aber Katzen kann man nicht …«
»Als Haustier, meine ich. Nicht als königlicher Vorkoster.«
»Ich dachte, die Haswells mögen keine Katzen.«
»Das war vor langer Zeit. Heutzutage tun wir Haswells alles Mögliche, woran wir früher nicht im Traum gedacht hätten.«
Wieder lächelte er bedauernd. Dann streckte er die Hand aus und berührte sacht ihren Arm. »Gut, dann wünsche ich dir wenigstens alles Gute zum Geburtstag.«
Am Abend schloss Lilly wie gewöhnlich den Laden und ging in die Labor-Küche, um nachzusehen, ob noch etwas in der Speisekammer war, aus dem sie ein Abendessen zaubern konnte. Die Auswahl war klein. Ein Viertellaib Brot. Ein Stückchen Stilton. Ein Gefäß mit eingemachten Stachelbeeren und eins mit
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