Das Geheimnis der Apothekerin
hm?«
Ihr Vater stieß sich von der Türschwelle ab, stolperte jedoch und wäre beinahe gefallen. Er konnte sich gerade noch an der Theke festhalten.
Lilly lief zu ihm und Ackers erkannte seinen Vorteil. Er packte Charlie am Arm und führte ihn aus dem Laden, ohne dass ihn jemand daran hinderte. Er war nicht brutal, aber er ging mit schnellen, festen Schritten und zog Charlie hinter sich her wie einen schlaffen Fisch an der Leine.
Lilly, die versuchte, ihren Vater aufrecht zu halten, rief: »Charlie!«
Ihr Bruder sah über die Schulter zurück. »Pass gut auf Jolly auf. Und sag es Mary, damit sie sich keine Sorgen macht, weil ich nicht mehr komme.«
»Ich komme, sobald ich kann!« Aber die Tür war schon zu, die Ladenglocke bimmelte und sie wusste, dass er sie nicht mehr gehört hatte.
Ihr Vater sank in sich zusammen. Sie nahm seinen Arm, führte ihn ins Behandlungszimmer und half ihm, sich auf die Liege zu legen. Dann kniete sie sich neben ihn. Der Anblick seines grauen Gesichts und seiner zitternden Glieder erfüllte sie mit neuer Furcht. »Bist du in Ordnung, Vater?«
Er fiel aufs Kissen zurück. »Nur so elend schwach.«
Er machte wirklich einen kränkeren Eindruck als jemals. Und jetzt war auch noch Charlie im Gefängnis, das war ein doppelter Schlag! Sie deckte ihren Vater zu und versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen, als sie fragte: »Was werden sie mit ihm machen? Wird er ausgepeitscht werden? Muss er in eine Anstalt? Wird er deportiert?«
»Ich weiß es nicht. Welches wäre das geringste Übel? Worum sollen wir beten?«
Es war eines der seltenen Male, dass er vom Beten sprach. Das zeigte ihr, dass er genauso verzweifelt war wie sie.
»Um ein Wunder. Wir brauchen ein zweites Wunder von Wiltshire.«
Kummer und Angst schlugen über ihr zusammen. Heftig schluchzend rannte Lilly aus dem Laden. Ihr erster Impuls war, bei Mary und Mrs Mimpurse Zuflucht zu suchen, aber sie wusste, dass die beiden heute Maudes Schwester in Wilcot besuchten. Sie dachte daran, den Grey's Hill hinaufzulaufen, doch diesmal hatte der Gedanke an seine wilde Einsamkeit nichts Verlockendes für sie. Sie fühlte sich auch so schon verlassen genug.
Während sie durchs Dorf lief, fiel ihr auf einmal der ruhige Friedhof ein. Am Tor blieb sie stehen und ging dann den Steinweg zur alten Kirche hinauf. Die schwere Tür quietschte, als sie sie öffnete und in das dämmerige, ruhige Dunkel trat. Langsam ging sie hinein. Ihre Schritte störten die Stille; das Echo kam von den Kalksteinwänden zurück. Es schien niemand da zu sein und das war ihr gerade recht. Sie suchte jetzt nicht die Gesellschaft eines Menschen. Sie ging durch das Hauptschiff in die Kapelle.
Dort setzte sie sich in die vorderste Reihe, wo seit hundert Jahren Haswells gesessen hatten. Wo ihre Mutter gesessen hatte, in schönen Kleidern und eleganten Hüten, ihr Vater in seinem dunkelblauen Sonntagsmantel, Charlie auf dem Schoß, der keinen Blick von den bunten Fenstern ließ und mit Sicherheit die einzelnen Scheiben zählte. Es schien so lange her, dass sie dort als Familie zusammengesessen hatten. Jetzt würde es nie mehr so sein.
Lilly fiel auf dem Steinboden auf die Knie, überwältigt von ihren Verlusten in der Vergangenheit … und denen, die sie in naher Zukunft erwarteten.
O Gott, bitte verschone meinen Bruder und meinen Vater. Ich habe doch schon meine Mutter verloren. Ich kann es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren …
Sie wusste nicht, wie lange sie so gekniet hatte, den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Wie von weit her hörte sie, dass eine Tür geöffnet wurde, dann erklangen Schritte im Kirchenschiff und ein metallisches Geräusch. Doch es dauerte eine Weile, bis sie dies alles richtig wahrnahm. Als sie schließlich zu sich kam und zusammenzuckte, verlegen, dass jemand sie in einer so demütigen Haltung sah, versuchte sie schnell aufzustehen. Aber es ging nicht.
»Lilly?«, fragte eine überraschte Stimme.
Die Kapelle schien zuerst ganz dunkel zu sein, doch als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah sie ganz nah den schwachen Schimmer einer Lampe oder Kerze.
Ihr Entdecker kniete vor ihr nieder. Francis.
»Lilly!« Die Sorgte verlieh seiner Stimme einen scharfen Ton, obwohl sie in dieser ehrwürdigen Umgebung zu einem Flüstern gedämpft blieb. »Soll ich dir aufhelfen?«
»Ich glaube, meine Beine sind eingeschlafen. Ich spüre sie nicht mehr.«
Er nahm ihre Hände und wollte sie hochziehen, doch plötzlich
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