Das Geheimnis der Apothekerin
musste Lilly den Blick abwenden. »Sie wollte es nicht.«
»Aber … das ist nicht richtig. Nicht fair.«
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »War es wirklich so falsch, dass sie sich an Ihrer Gesellschaft freuen wollte, ohne dass dieses Wissen Ihre Meinung über sie beeinflusste? Dass sie einfach wie ein ganz normales Mädchen mit einem Mann zusammen sein wollte? Sie hat noch nie einen Verehrer gehabt.«
Er runzelte die Stirn. »Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich zurückhaltender gewesen. Dann hätte ich mir nicht herausgenommen …« Seine Worte verklangen, doch es war klar, was er sagen wollte.
»Aber warum? Es ist doch nicht so schlimm, oder? Bis vor Kurzem sind die Anfälle relativ selten aufgetreten.«
Er griff nach der Kante der Theke, ohne richtig hinzusehen. »Miss Haswell. Ich habe vor zwei Jahren in einer Epileptiker-Anstalt gearbeitet. Nicht, um zu lernen, wie man Epilepsie behandelt, denn es gibt keine Behandlung, die diese Bezeichnung verdient, und auf gar keinen Fall eine Heilung. Ich war dort, weil sie ständig Wundärzte brauchen. Seither habe ich sehr viel Erfahrung darin, Stiche und Kopfwunden zu nähen, gebrochene Knochen zu richten, Brandwunden zu verbinden …«
Sie dachte daran, dass Dr. Graves diese Anstalten erwähnt hatte und wie sie den Gedanken, ihre Freundin an einen solchen Ort zu bringen, heftig von sich gewiesen hatte. Im Moment hatte sie nicht die Kraft zu einer flammenden Rede, wie sie sie damals Dr. Graves gehalten hatte. Nicht angesichts der tiefen Enttäuschung in der Stimme und auf dem Gesicht des Mannes.
Mr Shuttleworth holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Dort hat man Epileptiker hingebracht. Sie lebten ständig in der Anstalt. Und, Miss Haswell, es gab so gut wie keine Patienten, die älter waren als dreißig.«
Während Mary sich von ihren Verletzungen erholte, gewann auch Mrs Kilgrove ihre Gesundheit zurück und nahm ihnen allen die Angst vor weiteren Strafaktionen. Charlie, dem seine Gefangenschaft offenbar nicht geschadet hatte, verbrachte seine gesamte Freizeit bei der Frau, die völlig in ihn vernarrt und ganz und gar nicht nachtragend war, und mit seiner Katze Jolly.
Lillys Dankbarkeit gegenüber Roderick Marlow war unverändert. Nicht so die Gesundheit seines Vaters. Nachdem Sir Henry sich in den Wochen vor und nach seiner Heirat eines kurzen Wiederaufflammens seiner alten Vitalität erfreut hatte, war er jetzt wieder krank geworden. Vor ein paar Tagen hatte man nachts ihren Vater gerufen, um nach ihm zu sehen, und am Morgen danach stand der Diener schon wieder vor der Tür, um Mr Haswell erneut um eine Konsultation zu bitten. Doch ihr Vater hatte sich sehr schwach gefühlt, als er aufgewacht war, deshalb war Lilly allein hingegangen. Mr Whithers schien darüber alles andere als beglückt und als sie das Krankenzimmer betrat, wusste sie auch warum. Sie hatte Sir Henry noch nie in einem solchen Zustand gesehen. Dieses Mal war sie beinahe erleichtert, als sie hörte, dass auch nach Dr. Foster geschickt worden war.
Jetzt befand sie sich auf dem Heimweg. Sie ging langsam, bekümmert über die neueste Wendung von Sir Henrys Zustand und ihre Unfähigkeit, ihm zu helfen. Plötzlich hörte sie einen Schrei. Sie raffte ihre Röcke zusammen und zwängte sich zwischen den Bäumen hindurch, die Arthur Owens Hof von der Straße abschirmten. Als sie ins Freie kam, blieb sie erstaunt stehen. Da stand Roderick Marlow auf Owens Hofplatz und drosch mit beiden Fäusten auf einen Holzpfosten ein. Dabei brüllte er die ganze Zeit vor unverständlichem Kummer oder Zorn oder beidem.
Er muss es wissen , dachte sie.
Owens Schweine flüchteten an das andere Ende ihres Kobens. Marlows Pferd wieherte angstvoll. Seine Zügel hingen herab und es trabte ein Stückchen davon, ganz eindeutig kopfscheu gemacht durch das Verhalten seines Herrn. Auch Lilly war zutiefst erschrocken.
»Mr Marlow!«, rief sie. »Mr Marlow, bitte beruhigen Sie sich doch!«
Er fuhr zu ihr herum, außer sich vor Wut. »Beruhigen? Wie könnte ich?«
»Ihr Vater ist krank, ich weiß, aber …«
»Vater ist seit Jahren krank – körperlich, aber nicht geistig. Und jetzt das!« Er schleuderte ein Stück Papier in die Luft, zerknüllte es dann mit beiden Händen und warf es in Richtung Teich. Der Wurf war jedoch zu kurz gewesen und das Knäuel verfehlte sein Ziel.
Vorsichtig trat Lilly näher. »Was ist das?«
»Eine Kopie seines neuen Testaments. Damit hat er meinen Ruin besiegelt oder,
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