Das Geheimnis der Apothekerin
Küche. Mary, die gerade einen Tisch abwischte, blickte bei dem lauten Knall, mit dem die Tür gegen die Wand stieß, erschrocken auf. Wie durch einen Nebel sah Lilly, dass Mary Tränen in den Augen hatte, Augen, die blutunterlaufen und elend waren.
Plötzlich war sie verlegen und ganz und gar nicht mehr sicher, ob sie ihr die Neuigkeit mitteilen sollte und wenn ja, wie. Stattdessen fragte sie: »Was ist denn los?«
Mary wischte ziellos auf dem Tisch herum, ohne wirklich etwas zu sehen. Ihr Finger trug nur noch ein winziges Pflaster. »Ich weiß, dass es dumm von mir ist. Habe ich dir nicht gesagt, dass er mich sehr schnell fallen lassen würde, wenn er erfährt …?«
Oh nein! »Es tut mir so leid.«
»Ich mache ihm keine Vorwürfe, dem armen Mann. Es war mein Fehler. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich nicht die Frau bin, die er in mir sah.«
Lilly holte tief Luft und sagte mit etwas wackeliger Stimme: »Du bist auch nicht die Frau, für die ich dich hielt.«
Mary warf ihr einen scharfen, forschenden Blick zu.
Lilly ging durch den Raum und blieb vor ihr stehen. »Was weißt du über deinen Vater?«
Mary richtete sich auf. »Meinen Vater? Du meinst … Harold Mimpurse?«
Lilly fragte ruhig: »Meine ich ihn?«
Mary stand ganz still, nur ihre traurigen blauen Augen blinzelten. Augen, wie die von Charlie , dachte Lilly.
»Du weißt es?«, fragte Mary zögernd.
Lilly nickte. »Du auch?«
»Ja.«
Plötzlich hörten sie das Scharren eines Stuhls in dem Zimmer über sich und während sie noch standen und sich ansahen, kam Maude Mimpurse mit schleppenden Schritten die Treppe herunter. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen, die Hand auf das Geländer gelegt, und blickte von einer zur anderen.
Lilly ging zu ihr und streckte ihr den Brief entgegen. Sie versuchte, ein gelassenes Gesicht zu machen, während Mrs Mimpurses Augen sich weiteten und ihren Blick suchten. Doch dann schaute sie auf den Brief und nach ein paar Sekunden, in denen sie den Inhalt überflog, presste sie eine zitternde Hand auf's Herz. Wieder sah sie Lilly an, das Gesicht schamrot. Die Augen, die sich dann ihrer Tochter zuwandten, waren voller Angst.
»Du weißt es?«, fragte sie Mary.
»Dass Charles Haswell mein Vater ist?«, sagte Mary sachlich. »Ja, das weiß ich.«
»Woher? Seit wann?« Maude war fassungslos.
»Mein Zimmer liegt über diesem, so wie deines, und das Haus ist sehr hellhörig, wie du soeben festgestellt hast. Ich habe einmal gehört, wie ihr beide miteinander geredet habt. Oder vielmehr gestritten über etwas, das Dr. Foster über mich gesagt hat. Aber auch wenn ich das nicht mitangehört hätte – ich habe doch Augen im Kopf, oder? Ich erinnere mich gut genug an Papa , um zu wissen, dass ich keinen Tropfen von seinem Blut in meinen Adern habe.« Sie deutete mit der Hand auf ihren Kopf. »Und wo sonst sollte dieses lächerliche Haar herkommen?«
»Ich wäre nie darauf gekommen. Niemals«, sagte Lilly atemlos. »Habe ich nicht immer gesagt, dass du klüger bist als ich?«
Maude sagte: »Wir wollten nicht, dass sich herumspricht, dass Mr Mimpurse nicht dein Vater war. Es hätte deinem Ansehen geschadet.«
»Meinem oder dem von Charles Haswell?« Lilly zuckte zusammen, als sie den Groll in Marys Stimme hörte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr Vater seine kostbare Haswell-Reputation – und das Ansehen seiner Apotheke – über alles andere stellte.
»Es ist ganz natürlich, dass du aufgebracht bist«, sagte Maude.
Mary sog scharf die Luft ein. »Das bin ich nicht. Ich bin nur froh, dass sie es jetzt auch weiß.«
Lilly starrte Mary an, das Mädchen, das sie ihr Leben lang gekannt und doch nicht wirklich gekannt hatte.
»Dass Lill herausgefunden hat, dass wir Schwestern sind, ist das einzig Gute, was dieser Tag gebracht hat.«
Schwestern .
» Das «, sagte Lilly, »habe ich immer gewusst.«
Mary sah sie skeptisch an.
»Wirklich?«
»Ja, auch wenn ich es ein oder zwei Jahre vergessen hatte.«
»Lilly Haswell und etwas vergessen«, sagte Mary und lächelte mit bebenden Lippen. »Das ist wirklich ein Tag mit lauter nie dagewesenen Ereignissen.«
Maude, Mary und Lilly saßen in der Küche, dicht am Herd, und tranken zusammen ein Glas Honigwein, was sehr selten vorkam.
»Es war etwa ein Jahr, nachdem dein Vater mit seiner Frau nach Bedsley Priors zurückgekehrt war«, begann Maude. »Ich liebte Charles schon lange und, ehrlich gesagt, war ich sicher, dass er mich heiraten würde, wenn er von seiner
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