Das Geheimnis der Apothekerin
Schreibtisches wieder fixiert worden.
Welche Antworten mochte der Brief enthalten?
Ein Teil von ihr sehnte sich danach, ihn sofort zu öffnen. Ein anderer Teil war zu erschöpft, als dass ihr noch etwas daran lag. Wollte sie wirklich wissen, was darin stand?
Pflichtbewusst trug sie ihn die Treppe zum Schlafzimmer ihres Vaters hinauf. Erleichtert sah sie, dass er inzwischen aufgestanden war und sich angezogen hatte und an seinem kleinen Schreibtisch saß, die Feder in der Hand.
Er sah sie über seine neue Brille hinweg an und sie gab ihm den Brief ohne Kommentar. Er drehte ihn um. Dann saß er völlig still da und starrte mit gesenktem Kopf auf den Brief.
»Ich habe ihn unter deinem Schreibtisch im Behandlungszimmer gefunden.«
Er rührte sich nicht.
»Kennst du seinen Inhalt?«
Ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln.
»Vater?«
»Nein, aber ich fürchte mich vor ihm.«
»Was kann sie schon noch tun, um uns zu verletzen? Nach all der langen Zeit?« Lilly streckte die Hand aus. Er sah sie einen Augenblick mit großen, starren Augen an, dann senkte er wieder den Kopf. Schließlich schob er den Brief stumm in ihre Richtung, ohne hinzusehen.
Sie nahm ihn und ging damit ans Fenster, wo das Licht besser war. Dann brach sie das eingeschrumpelte Wachssiegel und faltete vorsichtig das steife gelbe Papier auf.
Gleich die erste Zeile enthielt einen Hinweis auf das Abfassungsdatum des Briefs:
Ein Jahr ist vergangen, seit ich Bedsley Priors verließ.
Schweigend las Lilly weiter. Die Erkenntnis, dass ihre Mutter nicht, wie sie sich oft ausgemalt hatte, fremde Kontinente und weite Meere bereist hatte, überraschte sie nicht mehr so sehr, wie es sie vielleicht früher überrascht hätte. Als ihre Mutter diesen Brief schrieb, lebte sie in London unter dem Schutz eines anderen Mannes. Aber auch das war nicht die Enthüllung, die sie schockierte.
»Was meint sie wohl damit?«, murmelte Lilly und las den Abschnitt noch einmal, diesmal laut.
Ich gebe nicht dir allein die Schuld, Charles. Ich weiß, dass ich als Ehefrau eine Enttäuschung für dich war und dass ich unser Ehegelübde in vieler Hinsicht gebrochen habe, noch bevor du es tatest. Ich war schon längere Zeit sehr unglücklich, wie du sehr gut weißt.
Ich gebe dich frei für M., Charles. Ich weiß, dass sie deine wahre Liebe ist. Und ich werde Trost darin finden, dass dieses arme, gequälte Mädchen unter der Obhut eines Vaters aufwachsen kann. Trost, den ich bitter nötig habe, wenn die Schuldgefühle, dass ich L. und C. verlassen habe, mir wie ein Messer ins Herz schneiden …
Lilly fror und schwitzte gleichzeitig. Schauer liefen ihr über das Rückgrat und durch die Glieder. Ihre Gedanken wirbelten, jagten durch die Jahre der Erinnerung zurück und versuchten, dem Geschehenen einen Sinn zu verleihen. Es kann nicht bedeuten, was es zu bedeuten scheint. Das kann es einfach nicht.
Sie sah ihren Vater an. Sein Gesicht zeigte die gleiche Scham und den gleichen Kummer, die sie empfand. So lange hatte sie ihn für unschuldig, für ein Opfer gehalten. Sie hatte ihrer Mutter ganz allein die Schuld gegeben! Sie hatte sie angeklagt und zugleich mit ihr gefühlt und sich nach ihr gesehnt. Was nützte ein unfehlbares Gedächtnis, wenn das, woran man sich erinnerte, eine Lüge war?
»Stimmt das?«, fragte Lilly. »Du und … Mrs Mimpurse?«
»Das war vor langer Zeit.«
Ihre Hände, die den Brief hielten, zitterten. »Wie lange?«
»Über zwanzig Jahre … lange bevor deine Mutter uns verließ. Ich dachte, wir hätten das überwunden.«
»Wo war Mr Mimpurse damals?«
»Fort, wie so oft, bevor er für immer ging.«
»Bevor er starb, meinst du?«
»Danach solltest du besser Maude fragen.«
»Du willst, dass ich deine Geliebte frage? Das fasse ich nicht.« Noch nie hatte Lilly in so scharfem Ton mit ihrem Vater gesprochen.
Er zuckte zusammen.
Ihr wachsender Ärger schlug plötzlich in eine trübe, kalte Wolke um, die sie zu ersticken drohte. »Was meint sie mit ›dass dieses arme, gequälte Mädchen unter der Obhut eines Vaters aufwachsen kann‹? Erwartete sie, dass du Mrs Mimpurse heiratest und Mary als deine Tochter großziehst?«
Ihr Vater sah sie an. Zwei Sekunden vergingen. Zweimal tickte die Uhr. Dreimal. Viermal.
»Sie ist meine Tochter.«
47
Die Gesellschaft guter Freunde ist die beste Medizin.
Dr. Hill, The Old Man's Guide to Health and Longer Life, 1764
Lilly stürmte ohne Aufenthalt ins Kaffeehaus – durch die Vordertür, nicht durch die
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