Das Geheimnis der Apothekerin
schwarzgekleideten Mann hinüber, der den Vorgang mit kühlem Interesse verfolgte – »ist die oberste Prüfinstanz der Apothekergesellschaft.«
Lilly war verstummt und schaute von der offenen Tür aus weiter zu.
»Sie sind im Recht«, fuhr Polly fort. »Jeder weiß, dass Hetta Diagnosen stellt und Arzneimittel herausgibt. Erst letzte Woche ist beinahe ein Junge gestorben, weil eine Medizin falsch ausgezeichnet war.«
»Oh nein!«
»Und es ist nicht das erste Mal. Es gab schon mehrere Anklagen wegen des Verkaufs von minderwertigen und gepanschten Arzneien.«
»Aber warum tut sie das?«
Polly zuckte die Achseln. »Irrtümer. Um Geld zu sparen. Ich weiß es nicht. Ihr armer Mann.«
Lilly schaute sie mit erhobenen Brauen an.
»Er steht völlig unter ihrer Fuchtel«, erklärte Polly. »Das war schon immer so; er ist noch nie mit Hetta fertig geworden. Er behauptet, sie sei genauso qualifiziert wie jeder Mann hier in der Straße.«
Die Frau namens Hetta schlug die Hände vors Gesicht und verschwand im Laden. Zum Schluss brachte der Büttel noch einen großen Arm voll getrockneter Kräuter heraus, steckte ein paar Büschel zwischen die Sachen, die bereits auf der Straße lagen, und warf den Rest obenauf. Wenige Sekunden später kam er dann ein allerletztes Mal aus dem Laden. Diesmal trug er ein schwelendes Stück Zunder, von dem er denn auch ohne viel Federlesens Gebrauch machte. Die Kräuter schwelten einen Augenblick und glühten dann durch den Alkohol, der in vielen der Tinkturen enthalten war, zu zornigem Leben auf. Das Feuer verzehrte das Holz und erfüllte die schmale Straße mit beißendem Rauch.
Lilly sah wie gebannt zu. Die Flammen und der Rauch stiegen zu beiden Seiten der Tür des entweihten Ladens auf und schwärzten das Ladenschild mit der Aufschrift J. W. Fry, Apotheker . Trotz der heißen Luft, die zu ihr herüberwehte, schauderte Lilly.
13
Ein gewisser adliger Herr befand sich in äußerst kritischem
gesundheitlichen Zustand. Die Ärzte empfahlen eine
Heirat als sicherste Methode, ihn wiederherzustellen.
The Gentleman's Magazine, 1769
Lilly sah die Briefe durch, die auf einem Silbertablett auf dem kleinen Tischchen lagen.
»Merkwürdig«, murmelte sie.
Ihre Tante sah sie über die Halbbrille, die sie zum Lesen trug, hinweg an. »Was ist merkwürdig, Liebes?«
»Ich habe meinem Vater vor gut vierzehn Tagen geschrieben und immer noch keine Antwort von ihm.«
Lilly hatte ihrem Vater ein paar Zeilen geschrieben, und zwar am gleichen Tag, an dem sie endlich Marys Brief beantwortet und ihr zum Geburtstag gratuliert hatte.
Ihre Tante faltete den Brief, den sie gelesen hatte, zusammen. »Vielleicht hat er viel zu tun. Oder das Schreiben hat sich durch die Post verzögert.«
»Hoffentlich geht es ihm gut.« Sie hatte ihren Vater zwar seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, aber sie hatten sich doch regelmäßig geschrieben. Sie hatte eigentlich zum letzten Weihnachtsfest nach Hause fahren wollen, doch ihr Besuch war verschoben worden, weil ihre Tante ein gefährliches Fieber bekommen hatte. Lilly war in der Stadt geblieben, um sie zu pflegen. Irgendwie hatte es sich seither nicht mehr ergeben.
»Natürlich geht es ihm gut. Er würde dir schreiben, wenn ihm etwas fehlen würde, oder?«
»Ich hoffe es.« Jetzt, wo sie darüber nachdachte, stellte sie fest, dass seine Briefe immer seltener geworden waren.
Ihre Tante schlitzte einen anderen Brief auf und fing an zu lesen. Plötzlich blickte sie mit leuchtenden Augen zu Lilly auf.
»Mein Liebes, du wirst es mir nicht glauben!«
»Was ist denn? Ich habe dich noch selten so begeistert gesehen!«
»Die Bromleys haben unsere Einladung zum Dinner bei uns am Samstag angenommen. Sie müssen gemerkt haben, dass Roger ein besonderes Interesse an dir hat. Auf jeden Fall ist diese Reaktion äußerst vielversprechend.«
»Aber wir haben sie eingeladen.«
Ruth Elliott fuhr unbeeindruckt fort: »Denk an meine Worte, Lillian. Roger Bromley wird dir schon bald einen Heiratsantrag machen.«
»Oh nein, Tante, das glaube ich nicht.«
Lilly hatte seit dem Ende der letzten Saison auf einen solchen Antrag gehofft. Er war eine sehr gute Partie. Wenn sie ihn heiratete, würde sie nicht nur ihrer Tante eine Freude machen; sie mochte Roger wirklich. Doch jetzt, nach dem Auftauchen von Susan Whittier, hatte sie diese Hoffnung aufgegeben. So enttäuschend es auch war, auf die galanten Avancen des blendend aussehenden Mannes verzichten zu müssen, hatten Dr. Graves'
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