Das Geheimnis der Apothekerin
verwahren.«
»Schon gut, Miss Haswell, ich werde Ihre Geheimnisse nicht verraten. Obwohl – ich nehme an, Dr. Graves kennt sie bereits alle.«
Ihre Lippen öffneten sich, aber ihr fiel beim besten Willen keine Entgegnung ein.
»Oder etwa nicht?« Marlow beugte sich vor, machte sich aber nicht die Mühe zu flüstern. »P-W hier deutete an, dass sich zwischen Ihnen beiden zarte Bande gebildet haben. Ich freue mich zu hören, dass das nicht der Fall ist.«
»Ich habe nie gesagt …«
Vor den Augen der anwesenden Männer legte Marlow ihr den Zeigefinger auf die Unterlippe. »Schhh … deine Geheimnisse sind bei mir sicher, Lilly.«
Damit drehte er sich um und verließ gemächlichen Schrittes den Wintergarten. Will Price-Winters folgte ihm auf den Fersen.
Lilly und Dr. Graves starrten ihnen verblüfft nach.
»Lilly?« Dr. Graves wiederholte den Namen. Aus seiner Stimme klangen zu gleichen Teilen Zweifel und Missfallen.
»Ja«, antwortete sie resigniert, »Lilly.«
»Ein Kosename aus der Kindheit?«
Sie seufzte, plötzlich vorsichtig geworden. »Mein Name. Sonst nichts. Bis meine Tante ihn änderte.«
»Sie haben diesem Mann erlaubt, Sie beim Vornamen zu nennen? Nicht einmal ich …«
»Niemand hat diesem Mann irgendetwas erlaubt. Er tut, was er will; das hat er schon immer getan. Achten Sie einfach nicht auf ihn.«
Er betrachtete sie aufmerksam. »Wirklich nicht?«
16
WITWE WELCH'S PILLEN
Die Eigenarten der weiblichen Beschwerden und ihre Symptome werden auf jeder einzelnen Tablettenschachtel aufgeführt und sollten von all jenen, deren Obhut junge Frauen anvertraut wurden, sorgfältig durchgelesen werden …
The Edinburgh Evening Courant, 1815
Als Dr. Graves das nächste Mal zu Besuch kam, entschied Lilly, dass es an der Zeit war, ihm alles zu erzählen, obwohl sie Angst vor den Folgen hatte. Sie waren wieder einmal allein im Salon, denn Tante Elliott schlief noch, da es am Abend zuvor nach einem Theaterbesuch sehr spät geworden war. Sobald er sich gesetzt hatte, sagte Lilly leise: »Auf dem Empfang bei den Bromleys neulich hat Mr Marlow mir vorgeworfen, Geheimnisse zu haben.«
Er hob erwartungsvoll die Brauen.
»Es gibt tatsächlich noch ein Geheimnis, das ich Ihnen erzählen muss.« Sie presste ihre feuchten Handflächen auf ihre Knie, um ihr Zittern zu unterdrücken.
Er nickte langsam und etwas argwöhnisch. »Hat es etwas mit diesem Mann zu tun?«
»Nein. Aber er weiß davon.« Sie holte tief Luft. »Es betrifft meine Mutter.«
Er zog die Brauen zusammen. »Ihre Mutter ist tot, dachte ich.«
»Von uns gegangen. Aber nicht tot. Zumindest nicht, soviel wir wissen.«
Er starrte sie an, sichtlich fassungslos.
»Sie hat uns vor nun fast fünf Jahren verlassen. Ist einfach verschwunden, ohne ein Wort, ohne einen Brief zu hinterlassen. Wir haben keine Ahnung, wohin sie ging oder wo sie im Moment ist.« Sie sah zur Tür, um sicherzugehen, dass niemand lauschte, und sagte dann ruhig: »Meine Tante und mein Onkel ziehen es vor, nicht von ihr zu sprechen. Ihre Bekannten glauben, dass sie noch in Wiltshire lebt oder tot ist. Ich kann ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Wenn es allgemein bekannt würde, würde das ihrem und meinem Namen schaden.«
Er wirkte ungläubig. »Nur weil Ihre Mutter verschwand? Sie könnte entführt worden sein – einfach unterwegs, eine Besorgung machen, und dann ist etwas Entsetzliches passiert.«
Sie zog eine Braue hoch. »Versuchen Sie, mich zu trösten?«
Erschrocken sagte er: »Verzeihen Sie mir.«
»Wie auch immer, ich bezweifle es.« Lilly schluckte ihre Scham hinunter und flüsterte: »Sie wurde gesehen, wie sie Bedsley Priors in Begleitung eines Mannes in Uniform verließ. Es ist nur ein Gerücht; es könnte einfach ein anderer Passagier gewesen sein, der dasselbe Boot nahm. Aber da sie vor der Heirat mit meinem Vater in einen Marineoffizier verliebt war, wäre das vielleicht ein allzu großer Zufall.«
Sein Gesicht wirkte ernst, fast erschrocken, und die Falten zwischen seinen Brauen vertieften sich, doch Lilly wappnete sich und fuhr fort: »Ich habe erst kürzlich einiges über sie erfahren. Ich weiß, dass sie nach London kam und meinen Onkel aufsuchte. Ich weiß, dass sie eine Zeit lang in der Fleet Street wohnte und Privatschüler unterrichtete.« Sie lachte erstickt auf. »Ich weiß, in welche Leihbücherei sie ging, aber ich weiß nicht …«, ihre Stimme brach, »warum sie uns verließ, ob es mein Fehler war und warum sie nicht geschrieben und uns
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