Das Geheimnis der Apothekerin
anfertigen ließen, und wie sehr wir uns alle darauf gefreut haben. Mr Alban hat einen neuen italienischen Roman aufgetan; er ist ganz sicher, dass du ihn mit Genuss lesen würdest. Er wird deine Sprachkenntnisse sicher noch einmal verbessern, bevor wir diesen Winter nach Rom fahren …
Wie sehr sehnte Lilly sich danach, nach Italien zu reisen! Das Kolosseum und das Pantheon zu sehen, die Basiliken und Plätze, in einer kleinen Pension zu wohnen, italienisch mit Italienern zu sprechen …
Sie seufzte, wohl wissend, dass sie, wenn sie noch länger in Bedsley Priors blieb, ihre gemeinsame Zukunft mit den Elliotts aufs Spiel setzte. Sie würde ihre letzte Saison verpassen, ihre letzte Chance, einen passenden Ehemann zu finden und als vornehme Dame in London zu leben.
Aber ihre Tante hatte auch etwas völlig Unerwartetes geschrieben:
Dein Onkel meint, ich müsse unbedingt erwähnen, dass Mr Graves vorgesprochen hat. Er schien überrascht zu sein, dass du London verlassen hast, ohne es ihm mitzuteilen, aber da du ihm nichts gesagt hast, fühlte ich meinerseits mich nicht verpflichtet, es zu tun.
Warum hatte er vorgesprochen? Lilly wunderte sich. Sie hatte eigentlich erwartet, dass er erleichtert war, sie nach den Enthüllungen über ihre Mutter auf so leichte Weise loszuwerden. Hatte sie sich vielleicht geirrt? Wenn sie bald nach London zurückkehrte, hatte er möglicherweise noch Interesse an ihr.
Einerseits hätte sie liebend gern die nächste Kutsche nach London genommen. Immerhin war die Haswell-Apotheke nicht ihre Angelegenheit. Sie war nur eine junge Frau. Ihr Vater hatte ihr klar und deutlich gesagt, dass sie seinetwegen das Londoner Leben nicht aufzugeben brauchte.
Aber sie wusste auch, dass, wenn sie wieder wegging, ihr Vater kaum eine Chance hatte zu überleben. Auf jeden Fall wäre sein Laden – sein Lebensinhalt und seine Existenzgrundlage – dem Untergang geweiht. Und was war mit Charlie? Ihr Vater war nicht in der Lage, für ihn zu sorgen.
Lilly hasste es, ihren großzügigen Onkel und ihre Tante zu enttäuschen. Sie kam sich treulos und undankbar vor. Der Gedanke an den verletzten Ausdruck in ihren Gesichtern, wenn sie erfuhren, dass sie nicht mehr zurückkam, verursachte ihr beinahe körperlichen Schmerz. Mussten sie nicht das Gefühl haben, ihre Zeit, ihr Geld und ihre Zuwendung an sie verschwendet zu haben? Ihr alles gegeben zu haben, nur um sie eines Tages ohne Vorwarnung verschwinden zu sehen und mit einem Zimmer voller schöner Kleider, Hüte und Hoffnungen, für die plötzlich keiner mehr Verwendung hatte, zurückzubleiben? Und das alles nur, damit sie … ja, damit sie was tun konnte? Den Laden ihres Vaters weiterführen, obwohl er ganz offensichtlich nicht zu retten war, genauso wenig wie die Gesundheit ihres Vaters? Jeder wusste doch, dass Frauen keine Apotheke betreiben durften.
»Sie sind wirklich eine Augenweide, Miss Haswell!«
Aufgeschreckt aus ihren Gedanken fuhr sie herum und sah Mr Shuttleworth am Kanalufer stehen. Diesmal trug er einen roten Samtrock und die gleiche goldene Weste und Krawatte wie bei ihrer ersten Begegnung. Er formte mit den Händen ein Fernrohr und betrachtete sie, so wie ein Kapitän durch ein Schiffsglas sieht. »Sie sehen genauso aus wie damals, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe.«
»Das ist ein Irrtum, Sir. Sie lebten noch gar nicht in Bedsley Priors, als ich zum letzten Mal hier auf der Brücke stand.«
Er kam vom Ufer herauf auf die Brücke.
»Ah ja. Aber erinnern Sie sich vielleicht, dass ich Ihnen sagte, dass ich auf diesem Kanal von Bristol nach London gefahren bin?«
Sie nickte.
»Ich bin damals natürlich auch an Bedsley Priors vorbeigekommen, ja wir haben sogar hier in der Nähe des The George für ein paar Stunden angelegt. Dort erblickte ich den ersten der drei Anreize, hierher zurückzukommen.«
Er stützte die Ellbogen auf die Brücke, dicht neben ihr.
»Es war eine liebliche junge Dame in Weiß, die in der Nähe der Mühle am Kanal entlangspazierte. Eine Schönheit unter Arbeitern. Eine Blüte im Schlamm.«
»Das war Miss Robbins, kein Zweifel«, sagte Lilly. Musste denn wirklich jeder Mann dieses Mädchen so in den Himmel heben?
»Ja, obwohl ich damals natürlich ihren Namen nicht kannte. Ich sah ihr nach, bis sie meinem Blick entschwand. Die Mannschaft war inzwischen ins The George gegangen und ich merkte, dass ich wesentlich dringender eine gute Mahlzeit brauchte als ein Bier und eine Pfeife. Ich ging ins Dorf hinein, nach
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