Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
aufgeschreckt haben. Der Grund für den Besuch Seiner Eminenz war ja nicht schwer zu erraten gewesen. Und da sie nicht sicher sein konnten, ob die Drohung, die man an Bandolf geschickt hatte, ihn tatsächlich davon abhalten würde, dem Befehl seines Königs zu gehorchen, war ihnen die Zeit knapp geworden. Die Lanze musste jetzt rasch gefunden und auf den Weg gebracht werden, bevor der Burggraf mit seinen Nachforschungen womöglich auf die Wahrheit stoßen würde.
Wenn die Verfehlungen des Priors an die Ohren eines jüdischen Händlers gedrungen waren, dann konnten auch Männer darüber Bescheid wissen, denen es gelungen war, die geheimen Pläne des Königs bezüglich der Heiligen Lanze auszuforschen.
Sie hatten gewusst, wie sie den Prior packen konnten. Und da die Zeit drängte, hatten sie auch in Kauf genommen, dass Bruder Ordlaf sich nun zusammenreimen konnte, was zur Sonnenwende in Liutbirgs Klause tatsächlich geschehen war.
»Nachdem Ihr von meinem Schreiber erfahren hattet, wo die Lanze womöglich versteckt sein könnte, seid Ihr
auf dem schnellsten Weg hierher gekommen«, sagte Bandolf scharf. »Warum? Wolltet Ihr die Lanze selbst finden? Zu Euren Zwecken verwenden? Aber Ihr habt sie nicht bei Euch. Konntet Ihr sie nicht finden? Hat man Euch beim Suchen ertappt, Euch niedergestochen und Euch die Beute abgejagt? Wer war es? Wer hat die Lanze jetzt?«
Die Augenlider des Priors zuckten. Es machte den Anschein, als wolle er antworten, doch aus seinem Mund kam nur ein Gurgeln.
Bandolf verlor die Geduld. Grimmig packte er den Mönch bei den Schultern und schüttelte ihn. »Verdammt, Prior, redet!«, knurrte er. »Ist man Euch zuvorgekommen? Oder sind sie noch in der Höhle und suchen danach?«
Schwach schüttelte Bruder Ordlaf den Kopf. »Ein Augenblick … der Schwäche … ich wollte … Vergebung.«
Ein Augenblick der Schwäche? Bandolf schnaubte. Und was ist mit Bruder Wynstan?, lag es ihm auf der Zunge zu fragen. Wäre das auch nur ein »Augenblick der Schwäche« gewesen, wenn der Novizenmeister dazumal in der Marienkapelle nicht hinzugekommen wäre und Schlimmeres verhinderte?
Doch dafür war jetzt keine Zeit. Er musste die Lanze finden und den Mann, der hinter all den Machenschaften steckte.
»Was ist passiert, als Ihr hier angekommen seid?«, wiederholte er.
»Die Botschaft … es hieß, ich sollte … zur Höhle kommen, sobald ich wüsste, wo die … die richtige Stelle wäre … machte mich sofort auf … dachte, ich könnte überreden … überzeugen, dass man das Kleinod zurückgäbe … dem Kloster zurückbrächte …«
»Bei allen Heiligen!«, entfuhr es Bandolf. Für einen Augenblick starrte er den Prior fassungslos an.
Hatte Bruder Ordlaf wirklich geglaubt, er könnte jemanden überreden, das aufzugeben, was zu erlangen so viel Anstrengung und Planung gekostet hatte?
Niemand, der die Königskrone von Burgund anstrebte, würde die Heilige Lanze aufgeben – jenes Kleinod, das einst ein Herrschaftssymbol Burgunds gewesen war –, wenn er sie erst in den Händen hielte und aller Welt damit zeigen könnte: »Gott, der Allmächtige, ist auf meiner Seite!«
»… Wollte … das Rechte … tun …«, riss ihn Bruder Ordlafs Röcheln aus den Gedanken. »Doch er wollte nicht … nicht auf mich … hören … lachte mich aus … fragte, ob ich mein Teil … erfüllt hätte …«
»Sprecht weiter«, drängte Bandolf, als der Mönch nur mehr nach Atem rang.
»… mein Fleisch … ist schwach … konnte nicht … hielt mir den Dolch … an die Kehle …«, kam Bruder Ordlafs Antwort so leise und undeutlich, dass Bandolf ihn kaum mehr verstand. Seine Lider sanken herab.
Der Prior hatte also preisgegeben, was Prosperius ihm gesagt hatte, doch offensichtlich hatte er sein Leben damit nicht retten können.
Bandolf stand auf. »Wie lange ist das her?«, fragte er scharf.
»… ließ mich … hier liegen … sah … zur Höhle gehen … aber nicht … herauskommen.«
Verdammnis! Sie waren noch da? Alarmiert sprang Bandolf auf.
»Wo finde ich den Eingang?«
Der Prior antwortete nicht. Als hätte der Schmerz ihn verlassen, trugen seine ebenmäßigen Züge wieder jene ruhige, undurchdringliche Maske, deren Schönheit nicht einmal durch den blutigen Speichel um Mund und Kinn beeinträchtigt wurde. Nur die Lippen, die sich lautlos bewegten,
und seine Hand, mit der er wie suchend über seinen Leib tastete, verrieten, dass er noch lebte.
Für einen Augenblick sah Bandolf mit einem unbestimmten Gefühl
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