Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
noch tief zu schlafen.
Wie spät mochte es sein?
Ihr aufgewühltes Gemüt schien sich nur langsam zu beruhigen. Leise stand Garsende auf und verließ die Halle. Noch schlaftrunken und mit bloßen Füßen tappte sie über den Dielenboden und öffnete die Tür zum Hof. Ein Schwall feuchtkühler Luft kam ihr entgegen.
Tief einatmend blieb Garsende auf der Schwelle stehen und ließ die frische Luft in ihre Lungen strömen, während ihr Blick müßig über den Hof wanderte.
Das Mondlicht breitete einen sanft schimmernden Schleier über die Schäden, die das Unwetter gestern angerichtet hatte. Trügerisch ließ es das nasse Stroh, das der Wind vom Dach der Scheune gerissen hatte, silbern glänzen und die Regentropfen auf den abgeknickten Zweigen im Garten der Burggräfin wie Juwelen funkeln.
Der Regen konnte erst vor Kurzem aufgehört haben.
Wie mochten die Pflanzen vor ihrer Hütte das heftige Gewitter überstanden haben? Garsende seufzte. Darum würde sie sich später kümmern, jetzt gab es so viel Dringlicheres, das ihr auf der Seele lag.
Im selben Maß, wie die abgekühlte Luft ihre Müdigkeit vertrieb, kehrten die Gedanken zurück, die sie bis in ihre Träume hinein verfolgt hatten.
Sie hatte Hildrun gefragt, von wem sie die Nachricht vom Tod des Kesselflickers gehört hätte, doch die junge Magd schien sich nicht mehr darauf besinnen zu können. »Wie man’s eben so hört«, hatte sie vage gemeint. »Von Leuten eben.« Und mehr war nicht aus ihr herauszubekommen gewesen.
Von Werno hatte Garsende wissen wollen, warum er ihr nicht gesagt habe, dass der Dietholder noch lebe. Schließlich sei er doch am Tag von Matthäas Verschwinden dort gewesen. Aber der Hausmeier hatte sich nur den kahlen Schädel gekratzt und gemeint, die Dietholderin hätte ihn an der Tür abgefertigt. Wie hätte er da wissen sollen, dass der Kesselflicker drinnen noch schnaufte.
Blicklos starrte Garsende auf den Hof hinaus, während dieselben Fragen in ihrem Kopf kreisten, um derentwillen sie sich am Abend zuvor eine halbe Ewigkeit auf ihrem Lager hin und her gewälzt hatte, bevor sie endlich eingeschlafen war.
Wenn jemand das Gerücht vom Tod des Kesselflickers absichtlich ausgestreut hatte, um Matthäa in die Schwertfegergasse zu locken, was war dann passiert? Niemand hatte sie dort gesehen. Hatte man ihr auf dem Weg dorthin aufgelauert? Sie in eine dunkle Ecke gezerrt und sie und das Kind …
Garsende fröstelte. Daran durfte sie jetzt nicht denken! Sie musste hoffen dürfen, dass die Burggräfin vielleicht noch lebte, nur so würde sie einen klaren Kopf behalten können. Aber wenn Matthäa noch lebte, wo war sie dann? Vom Pfauentor bis zur Martinspforte, vom Dom bis zum Sankt-Paulus-Stift hatten die Leute jeden Stein in Worms umgedreht und nirgendwo auch nur eine Spur gefunden.
Vielleicht hatte man Matthäa unterwegs angesprochen und sie mit einem Vorwand aus der Stadt gelockt?, grübelte
Garsende. Die Wachen der Stadttore waren befragt worden, doch keiner von ihnen hatte die Burggräfin gesehen. Allerdings musste das nichts heißen. An den Toren war ein ständiges Kommen und Gehen, und wäre die Burggräfin zusammen mit einigen anderen durch eines der Stadttore gegangen, wäre sie den Wächtern womöglich nicht aufgefallen. So jedenfalls hatte der Kämmerer Garsende gegenüber argumentiert, als sie ihn fragte, wie die Burggräfin denn ungesehen ans Flussufer hätte gelangen können. Ein Einwurf, den Garsende schwerlich hatte entkräften können.
Der Mantel aber konnte nicht am Fluss gewesen sein, nicht über zwei Tage lang, dessen war sich Garsende ganz sicher. Entweder hatte der Fischer gelogen, der den Umhang dort gefunden haben wollte, oder aber jemand hatte ihn dort hingelegt, damit man ihn fände und annehmen würde, die Burggräfin sei ertrunken. Aber wozu?
Wenn jemand Matthäas Tod nur vorgetäuscht haben wollte, wo war sie dann? Hielt man sie irgendwo gefangen? Wem könnte daran gelegen sein, und warum? Um eines Lösegeldes wegen? Aber der Burggraf war weit weg, wie sollte er seine Gattin auslösen?
Und warum ausgerechnet die Burggräfin? Bandolf von Leyen war in keine Fehde verstrickt, die an ein solches Vorgehen denken ließ. Hatten der Burggraf oder gar Matthäa selbst Feinde, von denen die Heilerin nichts wusste? Vielleicht war auch …
›Vielleicht, vielleicht. Vielleicht gaukle ich mir auch nur etwas vor, und Matthäa ist von einem Fremden ihrer Habe wegen getötet und irgendwo verscharrt worden, und wir
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