Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
warum hast du mich verlassen?
Bis spät in die Nacht hinein saß di Cavalli am Ufer der Lagune und dachte nach. Er war sich darüber im Klaren, dass man sich Sorgen um ihn machen würde, doch das scherte ihn nicht. Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, wie er künftig mit di Nanini umgehen wollte; wenn Paolo den Kontakt erneuerte und vielleicht sogar über politische Themen mit ihm sprach, durfte er das nicht ignorieren. Weder als Vater noch als Conte. Morgen, dachte er, morgen richte ich das Wort an Donata und bitte sie um Vergebung. Und dann wird endlich alles gut.
Paolo hatte sich auf den Heimweg gemacht. Er wusste, bei aller Eigenmächtigkeit durfte er seinen Vater nicht gegen sich aufbringen – noch war er nicht Conte. Die Zeit am Hof in Ascarello bei Siena war viel zu schnell vergangen. Tag um Tag hatte er einen neuen Grund gesucht, um noch ein wenig zu bleiben. Es hatte ihm Freude gemacht, mit di Nanini und seinem Sohn über den künftigen politischen Zusammenhalt von Siena und Lucca zu diskutieren, auch wenn der Anlass ein ernster war. Der Fürst hatte ihm anvertraut, dass die Medici in Kürze den Angriff auf Florenz beginnen und sich damit erneut die Herrschaft sichern würden. Die französischen Hilfstruppen, die seit einiger Zeit die Stadt schützten, befänden sich bereits im Abzug. Cassandra hatte ein Dokument ihres Vetters Giuliano mitgebracht, in dem dieser die Loyalität der Sienesen und die Bereitstellung von Soldaten forderte. Im Gegenzug bot er an, eine mögliche Aggression der Spanier unter Ferdinand von Aragonien an der Seite Sienas, wie er es nannte, »niederzuwalzen«.
Paolo deutete daraufhin an, bei seinem Vater für eine große Allianz mit Siena einzutreten. Er wusste: Siena brauchte Lucca nicht, aber Lucca brauchte dessen Unterstützung dringend. Und sein Vater war erfahren genug, um das einzusehen – bei allen persönlichen Vorbehalten gegen di Nanini.
Doch bei allem Stolz auf seine ersten politischen Schritte wusste er ganz genau, dass es nicht die Gespräche mit den beiden Nobili gewesen waren, die ihn seinen Besuch hatten ausdehnen lassen. Nein, der wahre Grund war Bella. Er suchte ihre Nähe, wo er nur konnte, fing sie nach ihren Unterrichtsstunden ab, um sich mit ihr zu unterhalten und ihr vom Schicksal ihrer Freunde zu erzählen. Beim Bericht über Giannis Zusammenbruch hatte sie angefangen zu weinen. Wie gern hätte er sie fest an sich gedrückt, aber er wusste, es wäre nicht schicklich gewesen und unklug dazu.
Beim Abschied am Morgen hatte er sie lächelnd gebeten, mit ihm zu kommen. Der Principe hielt es für einen Scherz und lachte laut. Aber es war ihm ernst gewesen, und der Blick in Bellas Augen zeigte ihm, dass sie ihn verstanden hatte. Er wollte, nein, er musste sie wiedersehen.
Als er den Palazzo in Lucca erreichte, spürte er sofort, dass etwas anders war als sonst. Eine düstere Stille lag über dem ganzen Anwesen, und obwohl die Sonne schien, war ihm plötzlich kalt. Noch bevor er bei den Stallungen angelangt war, sah er Carlo auf sich zulaufen. Das Gesicht seines Bruders war ernst. Wortlos nahmen sie sich in den Arm, dann begann der Jüngere auch schon zu berichten.
»Vater ist seit gestern Morgen fort. Niemand weiß, für wie lange und wohin.«
»Nicht einmal Mahmut?«, fragte Paolo erstaunt. Carlo schüttelte den Kopf.
»Nein. Niemand.«
»So etwas hat er noch nie getan«, sagte der Ältere leise. »Hoffentlich ist er nicht überfallen worden.«
Carlo klang beunruhigt.
»Ich hätte ja nach ihm suchen lassen, aber sag mir: Wo?«
Paolo legte den Arm um die Schulter des Bruders und zog ihn mit sich in Richtung Colonnaden.
»Mach dir keine Sorgen«, versuchte er Carlo zu beruhigen, »Vater ist ein ausgezeichneter Reiter. Außerdem kann er gut mit dem Messer umgehen. Ich möchte nicht in der Haut des Räubers stecken, der ihn überfallen will. Und nun komm. Lass uns etwas essen, und dann erzähle ich dir von di Nanini. Es ist mehr als interessant, das kann ich dir versprechen.«
Carlo lächelte zaghaft. Die Worte Paolos taten ihm gut, und die Aussicht auf ein paar Geschichten ließ seine Angst um den Conte etwas in den Hintergrund treten.
Als Paolo endlich seinen Reisebericht beendete, war es bereits spät am Abend. Natürlich hätte er sich kürzer fassen können, und in einer anderen Situation hätte er es auch getan, aber er fühlte, wie die Ungewissheit um das Schicksal seines Vaters nun auch von ihm mehr und mehr Besitz ergriff, und er hoffte,
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