Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
die Unendlichkeit. Wie gut es war, hier zu sein, in den Dünen – am Meer. Keine Maremma mit ihrem Elend, kein Sumpfland, kein Fieber. All das Grauen, mit dem sie sonst tagtäglich in Berührung kam, schien verbannt zu sein in ein anderes Land, in ein anderes Zeitalter. Hier gab es nur sie beide und ihre Liebe. Jedes Ding hat seinen Preis, hatte ihr Vater einmal gesagt, und sie fragte sich, welchen Preis sie für diesen Moment unaussprechlichen Glücks würde zahlen müssen. Jeden, mein Gott, jeden will ich zahlen, sagte sie zu sich selbst und sah ihren Geliebten an. Er hat den schönsten Mund der Welt, dachte sie noch. Da wurden die Olivenbäume lebendig.
Aus dem schimmernden Gefieder der Zweige lösten sich schwarze Schatten; unzählige kleine Silhouetten stoben schreiend aus den knorrigen Wipfeln und sammelten sich in einer dunklen Wolke über ihren Köpfen. Durch das laute Kreischen des Vogelschwarms erschreckt blieb sie abrupt stehen. Ein leichter Schwindel erfasste sie. Doch ihr Begleiter war schon da und fing sie auf, bevor sie strauchelte. Langsam ließ er sie in den Sand gleiten und legte sich still neben sie, strich ihr die Haare aus der Stirn, legte seine Hand auf ihre Wange, atmete, wenn sie atmete, und blickte sie an. Und verlor sich in ihren Augen. Wieder einmal. Träge und mit dem Ausdruck tiefster Geborgenheit lächelte sie. Ihre Lider flatterten, die Stirn wurde kurz kraus wie vor Unwillen über die Müdigkeit, dann entspannte sich ihr Leib an seiner Seite, und sie war eingeschlafen. Ihr Atem ging ruhig. Er nahm ihre Hand, betrachtete jeden Finger, koste einen wie den anderen und drückte ihre Hand an seine Brust. Sein Blick schweifte über das Wasser bis zum Horizont.
Wieder betrachtete er sie. Unersättlich. Nie zuvor hatte er eine Frau wie sie gekannt, nie zuvor war er einem Menschen begegnet, bei dem das Äußere so sehr dem Inneren entsprach. Eine schöne Seele … Er liebte ihre Anmut, ihren wachen Verstand, ihr großes Herz. Und diesen Blick aus Augen, so hell und klar wie zartgrauer Alabaster, zu fein und zu licht, um Farbe zu sein. Und er liebte das Kind, das sie in sich trug, sie hatte es ihm gesagt, heute, und er hatte laut aufgeheult vor Freude. Er war Fürst, Nobile, und er konnte alles haben, denn die Zeiten waren schlecht für das einfache Volk, und er bekam einen Ochsen zum Preis eines Kalbs.
Aber ein Kind von ihr – das hätte er nie zu hoffen gewagt. Er wusste nur zu gut, was sie mit dieser Entscheidung aufs Spiel setzte, und für diesen Mut liebte er sie noch mehr. Wenn er nur einen Weg fände, um sie aus Lucca fortzubringen! Sie konnten sich nicht ewig in Wäldern und Dünen verstecken. Diese heimlichen Treffen waren einfach zu gefährlich. Eine Entdeckung würde den sicheren Tod für sie beide bedeuten. Aber es musste doch eine Möglichkeit geben, gerade jetzt, wo sie das Kind haben würden … Er spürte einen Schmerz in sich, den Schmerz eines Mannes, der liebt und keinen Ausweg weiß. Da schlug sie die Augen auf und fragte verwirrt:
»Wo sind wir?«
Er drückte sie sacht, atmete den Duft ihrer Haare ein und sagte leise an ihrem Ohr:
»Im Paradies, Liebste. Wir sind im Paradies.«
1. KAPITEL
E s wurde langsam Tag. Die hellen Augen der jungen Frau, die mit schweißnassem Haar von Kissen gestützt im Bett lag, blickten fragend in das faltendurchfurchte Gesicht, das sich zu ihr herabbeugte. Ihr war kalt, und ihr Herz raste. Sie spürte die warme, harte Hand der alten Hebamme, die ihr beruhigend und mütterlich über die Wange strich, und hörte sie leise sagen:
»Ein Mädchen, meine Contessa. Es ist ein Mädchen.«
»Dem Herrn sei Dank … zeig sie mir, Maria.«
Ein Mädchen. Die Frau schlug das Kreuzzeichen und küsste das Amulett, das sie um den Hals trug. Dann schloss sie die müden Augen und drehte ihr Gesicht zur Seite. Da, wo eben noch Schmerzen gewesen waren, spürte sie nun nichts mehr. Doch das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals. Schwer ruhte ihr Kopf in den aufwendig gearbeiteten Kissen. Die trockene Seide war angenehm kühl, und Donata erinnerte sich, wie sie dieses Kissen hier im letzten Winter genäht und verziert hatte. Da hatte sie schon die Bewegungen des Kindes gespürt, das sie unter dem Herzen trug. Sie lächelte beim Gedanken daran.
Donna Donata, Contessa di Cavalli, Gräfin der Seidenstadt Lucca, hatte soeben eine kleine Tochter zur Welt gebracht. Sie schlug die Augen wieder auf und versuchte, gegen die Schwäche anzukämpfen. Ihre Beine
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