Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
zeigen. »Perspektive.«
Der Vogt sah den Geistlichen stumm an. Der Pfarrer versuchte es noch einmal.
»In der traditionellen Malerei gibt es eine versteckte Symbolsprache. Die erhobene Hand, die Lilie, die Art der Landschaft. Die Größe der Abbildung eines Hauses oder einer Blume hängt von ihrer Bedeutung ab. Doch hier«, er machte eine umfangende Geste, »bediente sich der Künstler eines völlig neuen Stilmittels: Er malte so, wie unsere Augen sehen.«
Umberto sagte immer noch nichts. Der Prete seufzte.
»Ein Haus ist für gewöhnlich größer als ein Mensch«, erklärte er, »aber wenn das Haus auf der Sichtachse viel weiter hinter dem Menschen liegt, erscheint es kleiner als der Mensch. Habe ich Recht?«
Der Vogt nickte.
»So. Das ist Perspektive. Und das hat der Künstler hier angewendet, in einer radikalen Form. Die Schwingen sehen aus, wie dein Auge sie bei einem Vogel sieht. Sie wirken plastisch, als könntest du sie greifen.«
»Wer ist der Künstler?«
»Ein alter Kauz. Malt und erfindet und reist in der Weltgeschichte herum. Leonardo ist sein Name, aus der Gegend von Vinci.«
Umberto nickte. Von diesem Mann hatte er schon gehört. Man sagte ihm einige Schrullen nach, etwa, dass er in Spiegelschrift schreiben würde, und es gab Stimmen, die bezichtigten ihn, Leichen aufgeschnitten und gezeichnet zu haben. Doch das waren nur Gerüchte.
»Wo hält er sich jetzt auf? In Florenz?«
Der Pfarrer nahm vor Umberto Haltung an. Nun trug er wieder sein mildtätiges Unschuldsgesicht. Er faltete die Hände vor dem Bauch und sagte leise:
»Mein Sohn, ich merke mit Sorge, dass du kein Kirchgänger bist. Sonst wüsstest du, dass er in Rom ist, im Vatikan. Er steht in den Diensten unseres Papstes.«
Der neue Vogt trug diese Schelte gelassen und erhob sich aus der Kirchenbank. Er nahm einen kleinen samtenen Beutel aus seinem Wams und hielt ihn dem Prete entgegen.
»Für die heilige Mutter Kirche«, sagte er mit Hochachtung in der Stimme, dann legte er den Kopf etwas schief und fragte freundlich: »Ihr wolltet mich sprechen, Vater. Was kann ich für Euch tun?«
Francesca hatte ihr bestes Gewand angelegt. Es war schlicht gearbeitet; allein die gebauschten Ärmel und die zarten Stickereien am Kragen sorgten für etwas Schmuck. Sie war nervös. Der neue Vogt hatte sich zum Besuch angemeldet und war damit ihrem Wunsch, ihn zu sprechen, zuvorgekommen. Sie nestelte an ihrem Rosenkranz herum und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Und was war, wenn der Vogt mit dem Wirt unter einer Decke steckte? Sie trat an die Feuerstelle und nahm den Kessel vom Haken. Der Eintopf duftete köstlich. Pietro war immer ganz verrückt danach gewesen. Sie dachte an ihren Bruder und bekreuzigte sich. Ja, sie hasste ihn dafür, dass er so viel Schande über sie gebracht hatte. Wenn er Geld besessen hatte – inzwischen glaubte sie nicht mehr so recht daran –, dann hatte sie es noch nicht gefunden, oder es war nicht mehr da. Sie seufzte. Jeden Winkel hatte sie durchsucht, jeden losen Stein umgedreht. Nichts. Als es an der Tür klopfte, schüttelte sie den Kopf, wie um die bösen Gedanken zu vertreiben, und setzte eine freundliche Miene auf. Dann öffnete sie ihrem Gast.
Umberto, noch damit beschäftigt, wovon ihm der Pfarrer gerade erzählt hatte, machte eine kleine Verbeugung und trat ein. Das war also die Schwester des Vogts Martini. Er betrachtete die kleine, unsicher wirkende Frau mit Interesse. Sie hatte ihre besten Jahre hinter sich – falls sie jemals welche gehabt hatte –, und ihr Gesicht war freudlos und flach. Das Einzige, was ihrer Miene Ausdruck verlieh, waren die eng zusammenstehenden nussbraunen Augen. Auf ihren Wink hin legte er seinen Umhang ab und betrat die Küche, in der es köstlich nach Fleisch und Gewürzen duftete. Francesca setzte sich und machte ihm ein Zeichen, es ihr gleichzutun. Eine kleine Pause entstand, in der niemand sprach. Francesca füllte zwei Becher mit Wein und wartete darauf, dass Umberto das Wort an sie richtete. Als Umberto das spürte, lächelte er, und zu seiner Überraschung bemerkte er, dass ihre Augen für einen Moment aufleuchteten.
»Ich freue mich, hier zu sein«, begann er die Unterhaltung. Francesca sah ihn aufmerksam an.
»Vom Wirt hörte ich, dass du nicht besonders an deinem Haus hängst. Ich interessiere mich dafür, und ich bin bereit, dir einen guten Preis zu zahlen. Was sagst du dazu?«
Er nahm einen Schluck und blickte sie offen an, und Francesca erwiderte seinen
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