Das Geheimnis der Götter
Stein unter Steinen kümmerte es ihn nicht mehr, welchen Platz er einnahm, weil er viel zu glücklich war, an dem Bau teilhaben zu dürfen.
Der Königliche Sohn hatte kein Alter mehr. In den Zustand eines Ungeborenen zurückversetzt und von dieser weißen Haut beschützt, verspürte er keine Angst.
Der Schlitten hielt an.
Der Kahle forderte Iker auf, sich auf die Fersen zu setzen. Vor ihm wurde ein riesengroßer Papyrus entrollt, der mit zahllosen Reihen von Hieroglyphen beschrieben war. In der Mitte machte er eine erstaunliche Entdeckung: Osiris von vorne, mit der Auferstehungskrone, dem Zepter der Macht und dem Lebensschlüssel. Um den Großen Gott herum waren Feuerkreise zu sehen.
»Dies ist der Athanor, der Ofen der Umwandlungen. In ihm ist Leben und Tod.«
Iker dachte, er fiele einer Sinnestäuschung zum Opfer. Aus den Schriftzeichen auf dem Papyrus erschien ihm General Sepi.
»Entziffere diese Worte und schreibe sie dir in dein neues Herz«, empfahl er seinem Schüler. »Wer sie kennt und versteht, strahlt am Himmel wie Re, und das Sternenbild erkennt ihn als Osiris an. Steige hinab in den Mittelpunkt der Feuerkreise, gelange zur Insel in Flammen.«
Sepis Gestalt verschwamm vor seinen Augen, aber nicht nur Ikers Gedächtnis, sein ganzes Wesen hatte sich die Worte seines Lehrers gemerkt. Er war jetzt selbst Hieroglyphe. Der Papyrus wurde wieder eingerollt und versiegelt. Dann erschienen drei Handwerker mit feindseliger Miene –
ein Bildhauer, ein Grobschleifer und ein Feinschleifer.
»Nun kommen die an die Reihe, die den Ursprung schlagen müssen«, befahl der Kahle.
Iker war nicht imstande, sich zu wehren, und musste mit ansehen, wie ein Hammer, ein Meißel und ein runder Stein zum Vorschein kamen.
»Du wirst jetzt schlafen«, beruhigte ihn der alte Ritualist.
»Beten wir zu den Vorfahren, dass sie dich wieder aus diesem Schlaf erwecken.«
Nachdem sie alle Sperren hinter sich gebracht hatte, betrat Bina den Tempelanbau und holte Brot und frische Milch für die ständigen Priester ab.
»Soll ich bei dem Kahlen beginnen?«
»Nein, er ist nicht zu Hause«, antwortete ihr der Mann, der für die Einteilung der Arbeiten zuständig war.
»Hat er Abydos etwa verlassen?«
»Er? Nein, niemals! Er ist mit der Einweihung des Königlichen Sohnes beschäftigt, soweit ich weiß.«
Bina setzte eine erstaunte Miene auf. »Der Königliche Sohn… Verfügt der denn nicht längst über alle besonderen Kräfte?«
»Wir sind hier in Abydos, Mädchen! Hier zählt einzig und allein das Gesetz der Mysterien. Dem hat sich jeder zu unterwerfen, unabhängig von seiner Stellung.«
»Nun gut, dann gehe ich eben zu den anderen ständigen Priestern. Sie werden doch wohl zu Hause sein.«
»Das siehst du dann schon! Und schwatz nicht so viel, beeil dich lieber ein bisschen. Die alten Ritualisten mögen es gar nicht, wenn sie auf ihr Frühstück warten müssen.«
Am Schluss ging Bina zu Bega.
»Was geschieht mit Iker?«
»Der Kahle und die Handwerker weihen ihn in die Geheimnisse des Goldenen Hauses ein.«
»Kennst du diese Geheimnisse auch?«
»Nein, ich gehöre nicht zur Bruderschaft der Bildhauer«, antwortete Bega trocken.
»Und warum wird Iker von ihnen eingeweiht?«
»Vermutlich ist das für die Erfüllung seines Auftrags unerlässlich.«
Bina musste bis zum Mittag warten, ehe sie mit dem Propheten sprechen konnte, der gerade mehrere große Gefäße gesäubert hatte, die ein Dutzend Priester zur Reinigung der Altäre benötigten.
»Ich mache mir große Sorgen, Herr.«
»Wovor hast du Angst?«
»Iker wird mit neuen Mächten ausgestattet.«
»Meinst du seine Initiation in das Goldene Haus?«
»Ihr… Ihr wusstet das?«
»Da dieser Schreiber den Untergang von Gefährte des Windes und das Verschwinden der Insel des ka überlebt hat, geht er den Weg zu Ende, den ihm das Schicksal bestimmt hat.«
»Muss er nicht so schnell wie möglich getötet werden? Bald wird er sich unserem Zugriff entziehen!«
»Er entkommt mir nicht, sei unbesorgt. Je mehr er zum Mittelpunkt der Mysterien vordringt, umso mehr entwickelt er sich zu einem unersetzlichen Wesen – dem Nachfolger von Sesostris. Mir geht es nicht darum, irgendwelche belanglosen Menschen zu beseitigen. Wenn wir aber jemand töten, der Sesostris so wichtig ist wie Iker, brechen wir ihm das Kreuz, weil Iker seine Schwachstelle ist. Muss er mit ansehen, wie die Zukunft Ägyptens, an der er so lange und geduldig gebaut hat, für ihn zusammenbricht, wird der
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