Das Geheimnis der Götter
sicher, wie er gegen sie vorgehen musste. Jeder Wächter hatte einen anderen Gesichtsausdruck. Der Prophet entschied sich schließlich für den strengsten, der nach Norden blickte, und strich ihm eine rötliche Flüssigkeit aus Tollgerste, nubischem Sand, Salz aus der Wüste und Blut von Bina auf die Augen. Geduldig rieb er den Sandstein damit ein, bis die Flüssigkeit eingedrungen war und den ersten Löwen erblinden ließ.
Die drei anderen Löwen erfuhren das gleiche Schicksal. Auch Süden, Osten und Westen konnten nicht mehr sehen. Bald waren ihre Klauen und Fänge wirkungslos und die Wächter nur mehr harmlose Steinfiguren.
Als Träger der Goldenen Palette feierte Iker mit Unterstützung des Kahlen das Morgenritual. Gemeinsam mit ihm überprüfte er die Arbeit der ständigen Priester, dann gönnten sich die beiden Männer einige Minuten der Sammlung vor dem Grab von Osiris.
»Du hast keinen Fehler gemacht«, sagte der alte Ritualist,
»jetzt bist du wirklich unser Oberpriester.«
»Ich bin nur ein Gesandter des Königs, Ihr leitet diese Bruderschaft.«
»Nicht mehr, Iker. Innerhalb kürzester Zeit hast du einen gewaltigen Weg zurückgelegt, du hast tausendundeine Klippe umschifft, zahllose Hindernisse aus dem Weg geräumt und einen schwierigen Auftrag erfüllt. Das Alter spielt keine große Rolle. Die ständigen Priester erkennen dich längst als meinen Nachfolger an, und ich könnte mir auch keinen besseren wünschen.«
»Glaubt Ihr nicht, dass diese Entscheidung voreilig ist?«
»Manche Menschen bekommen genug Zeit, sich auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten, andere lernen sie erst zu meistern, wenn sie sie bereits ausüben. Dir hat das Schicksal bestimmt, den Weg für dich selbst zu bahnen. Du wolltest Abydos, und Abydos steht dir offen.«
»Und der Goldene Kreis?«
»Du bist bereits mittendrin. Dir bleibt nur noch eine letzte Tür, die du bei der Feier der Mysterien durchschreiten wirst, die deshalb äußerst gewissenhaft vorbereitet werden muss. Noch heute Abend überprüfen wir, ob der Bestand an erforderlichen Gegenständen vollständig ist. Danach gehen wir gemeinsam die einzelnen Schritte des Rituals durch.«
Als Iker später in sein kleines weißes Haus ging, empfing ihn Isis mit einem strahlenden Lächeln, und sie umarmten sich.
»Glaubst du, dass ich meiner Aufgabe gewachsen bin?«, fragte er sie besorgt.
»Das ist doch nicht die Frage. Wer könnte schon von sich behaupten, dass er sich der großen Mysterien für würdig hält?
Der Geist von Abydos ruft uns, wir öffnen unser Herz für sein Licht und feiern die Riten, indem wir in die Fußstapfen unserer Vorfahren treten. Was bedeutet unsere seelische Verfassung angesichts dieser großen Verantwortung?«
Sie gingen auf die Terrasse, auf der ihnen ein Leintuch, das zwischen vier Holzpfeiler gespannt war, Schatten spendete. Vollkommenes Glück – die Vereinigung von Alltäglichem und Heiligem, von hehren Zielen und ihrer Verwirklichung. Isis und Iker waren wie eins und dankten den Göttern für diese Gnade.
»Nimmt mich meine Schwester aus dem Goldenen Kreis wirklich ohne Vorbehalte auf?«
»Ich habe lange überlegt und immer wieder gezögert«, scherzte sie, »aber irgendwie schienst du noch der am wenigsten schlechte Bewerber zu sein…«
Er liebte das Lachen in ihrer Stimme und ihre strahlenden Augen. Die Liebe, die bei ihrer ersten Begegnung geboren war, wurde immer größer und stärker, und beide wussten, dass die Zeit sie nicht mindern würde – im Gegenteil.
Doch dann befielen Iker wieder düstere Gedanken.
»Bega hat ein Loblied auf Gergu gesungen. Dabei hatte ich ihm meine Befürchtungen nicht verheimlicht, die sich auf deine Einschätzung gründen.«
»Das ist sehr merkwürdig, weil er eigentlich niemand lobt.«
»Wegen seiner schroffen Art ist er nicht sehr angenehm, aber ich halte ihn für aufrichtig. Gergus Lieferungen stellen Bega in jeder Hinsicht zufrieden. Bleibt eigentlich nur ein dunkler Punkt: Ist Gergu von selbst nach Abydos gekommen, oder hat ihn jemand beauftragt?«
»Was sagt Bega dazu?«
»Das kümmert ihn nicht, Hauptsache Gergu macht seine Arbeit gut und bei Ein-und Ausreise gibt es keine Beschwerden.«
»Für jemand, der so kleinlich ist wie er, erscheint mir das äußerst seltsam.«
»Willst du damit vielleicht ›verdächtig‹ sagen?«
»Nein, ich habe ihm nichts vorzuwerfen – außer seiner Kaltherzigkeit.«
»Ist die echt oder nur gespielt?«
»Jedenfalls geht Bega kaum einmal zu
Weitere Kostenlose Bücher