Das Geheimnis der Götter
diese Höllenglut besänftigen könnt?«
Isis machte sich an den schwierigen Abstieg, und Sarenput ersparte sich weitere nutzlose Einwände.
Auf halbem Weg warf sie den Ankerpfosten – den Fürsprecher der Großen Weinenden, der ihren Bruder heilen sollte – in den See.
Er stürzte mitten in den brodelnden Feuersee, gewaltige Flammen fielen über ihn her.
Doch das Holz blieb unversehrt und verzehrte die Flammen. Eine Gasblase nach der anderen zerplatzte, und das Brodeln hörte allmählich auf.
Nun konnte Isis hinuntergehen und zu der Reliquie gelangen. Sie zog die beiden schützenden Steine auseinander und nahm den Nacken und die Kiefer des Osiris, die vollkommen unversehrt waren.
Sarenput war so überwältigt, dass er gar nicht wusste, wie er diese Leistung angemessen loben sollte.
»Es gibt wohl keine finstere Macht, die Euch aufhalten kann!«
Isis lächelte nachsichtig.
»Der Prophet ist noch nicht besiegt, und die Gefahren könnten sich vervielfachen.«
»Da wir hier einen Trupp seiner Leute angetroffen haben, ausgerechnet hier… Glaubt Ihr etwa, dass weitere Provinzhauptstädte verseucht sein könnten?«
»Bezweifelt Ihr das denn?«
Eine quälende Frage blieb: Hatte Isis’ Eintreffen Aufständische überrascht, die auf Einsatzbefehle warteten, oder waren sie bereits von jemand gewarnt worden?
Möglicherweise gingen die Kämpfer des Propheten überall im Land in Stellung, um die Oberpriesterin von Abydos zu töten.
26
Theben, die Hauptstadt der vierten Provinz Oberägyptens, des Zeptergaus, war das Schmuckstück einer ausgedehnten fruchtbaren Ebene, deren unvergleichliche Schönheit und Anmut alle Bewohner einhellig rühmten. Schließlich hieß es auch, dass die Saat des Nun, des Urmeers, hier unter der Flamme des Sonnenauges gerann. Auf dem Lebensboden erhob sich der Urhügel, umgeben von vier Pfeilern, die das Himmelsgewölbe trugen.
Isis ging in den großen Tempelbezirk, den Karnak, die
»Sonnenstadt des Südens«. Dort vollzog sich die Verschmelzung von Atum, dem Schöpfer, mit Re, dem göttlichen Licht, und Amun, dem Verborgenen. Himmel und Erde vereinten sich, und die neun Mächte, die am Anfang aller Dinge standen, zeigten sich im Osten.
Die junge Frau blieb andächtig vor den beiden riesigen Statuen stehen, die den aufrechten Sesostro – einmal mit der doppelten und einmal mit der weißen Krone – zeigten. In der Hand hielt der König das Vermächtnis der Götter, in dem sie ihm das Land Ägypten anvertrauten. Sein Gesichtsausdruck zeigte Entschlossenheit.
Der Oberpriester von Karnak begrüßte Isis, die von Sarenput begleitet wurde. Die Bogenschützen warteten außerhalb des Heiligtums.
»Der Glanz dieser Herrschaft wird nie in Vergessenheit geraten«, erklärte der Priester. »Aufgrund seiner Heldentaten bleibt ein Pharao immer in Erinnerung. Und seine größte Tat ist, dass er für die Ewigkeit bürgt. Willkommen, Oberpriesterin von Abydos.«
»Könnt Ihr mich zur Kapelle des Osiris führen?«
»Sie steht Euch offen.«
Wie in Abydos war Osiris’ Grabstätte von Bäumen umstanden. Hier herrschte tiefe, beinahe bedrückende Stille. Im Inneren der Kapelle befand sich ein Tempelraum, den eine zweiflügelige Tür verschloss.
Isis sprach die Worte des friedlichen Erwachens und öffnete den Riegel – den Finger von Seth. Zum Vorschein kam eine großartige goldene Statue von Amun-Re, etwa eine Elle hoch. Das kleine Denkmal beherbergte aber nicht die ersehnte Reliquie.
Die Priesterin bemühte sich, keine Enttäuschung und Besorgnis aufkommen zu lassen, erfüllte ihre rituellen Pflichten, schloss dann wieder die Tür und zog sich rückwärts zurück, wobei sie ihre Fußspuren mit Thots Besen wegfegte. Der Oberpriester erwartete sie im Schatten eines Säulengangs.
»Seid Ihr in letzter Zeit beraubt worden?«, fragte sie ihn.
»Wer würde es wagen, den Frieden dieses Heiligtums zu stören? Nicht einmal der ärgste Verbrecher käme darauf, diesen Ort zu entweihen!«
»Kennt Ihr sämtliche zeitweiligen Priester und ihre Gewährsleute?«
»Ja… Das heißt, fast alle. Meine Helfer verpflichten nur fähige und vertrauenswürdige Freiwillige. Ich weiß von keiner Klage gegen priesterliche Angestellte von Karnak.«
»Hat es in den vergangenen Monaten irgendeinen
Zwischenfall gegeben?«
»Nein, keinen einzigen!«
»Auch nicht die kleinste Unordnung im Umfeld?«
»Nein! Oder vielleicht doch…«
»Ich würde gern Näheres darüber erfahren.«
»Das wird Euch nicht
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