Das Geheimnis der Götter
festlich und brachte den Gerechten zahlreiche Gaben, vor allem verjüngendes Wasser göttlichen Ursprungs und
»Lebenssträuße«. Gesänge klangen bis zu den Sternen, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits war aufgehoben, und jede Grabstätte wurde zum »Heim der hellen Freude«. Ziel der Prozession war die Tempelanlage von Deir el-Bahri. Hier befand sich das erstaunliche Bauwerk von Mentuhotep, der zweihundert Jahre vor Sesostris geherrscht hatte und ihm als Wiedervereiner Ägyptens, als Eingeweihter in die Mysterien des Osiris und als Alchemist zum Vorbild diente. Von einem Empfangstempel führte eine breite Rampe zu einem großen, mit Akazien bewachsenen Osiris-Hügel. Am Fuß der Rampe behüteten fünfundfünfzig Tamarisken und zwei Reihen von Sykomoren sitzende Statuen des Pharaos in einem weißen Umhang, wie man sie zum Fest der Wiedergeburt trug.
Eine vornehme Priesterin empfing die junge Frau.
»Dein Name und dein Amt?«
»Ich bin Isis, Oberpriesterin von Abydos und Tochter von Pharao Sesostris.«
Tief beeindruckt verneigte sich die Ritualistin vor ihr.
»Wollt Ihr bereits Vorbereitungen für das Talfest treffen?«
»Nein, ich möchte wissen, ob das Osiris-Heiligtum eine Reliquie enthält.«
»Das weiß ich nicht.«
»Betrittst du denn nie das Grab des Osiris?«
»Es ist schon seit langem verschlossen!«
»Dann sollst du es für mich öffnen.«
»Entschuldigt, aber wäre das keine Entweihung?«
»Beschützt mein Vater etwa nicht dieses Heiligtum?«
Die Priesterin nickte.
»Er ließ mehrere Statuten errichten, die ihn zeigen, wie er Mentuhotep, einen seiner Vorgänger verehrt. Wir verdanken ihm tatsächlich, dass der Friede von Osiris aufrechterhalten wurde.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Wie meint Ihr das?«
»Gab es vielleicht in letzter Zeit irgendwelche Neugierige, die diesen Frieden stören wollten?«
»Die Tempelanlage wird nicht ständig bewacht! Was hätten wir auch zu befürchten?«
»Führ mich zum Grabeingang.«
Obwohl die Stimme der Isis ruhig und sanft klang, duldete sie ganz offensichtlich keinen Widerspruch. Die Ritualistin brachte sie also zu einer Gruft, die in den Berg gegraben war. Ein Koloss bewachte den Eingang. Der Pharao trug die rote Krone, Gesicht, Hände und Beine waren schwarz, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und in den Händen trug er die Osiris-Zepter. Furcht erregend und mit strenger Miene hielt er jeden Weltlichen von dem Grab fern.
»Weiter gehe ich nicht«, sagte die Priesterin.
»Das wundert mich aber«, meinte Isis.
»Dieser Hüne scherzt nicht!«
»Solltest du nicht eigentlich die Worte kennen, mit denen sich der ka beschwichtigen lässt?«
»Ja, gewiss, aber dieser Ort hier ist etwas ganz Besonderes…«
»Der Prophet hat dir den Auftrag erteilt, das Geheimnis des Grabes von Mentuhotep herauszufinden, und du weißt nicht, wie du das anstellen sollst.«
So überraschend entlarvt, trat die falsche Ritualistin erschrocken einen Schritt zurück bis an den Rand eines Abgrunds. Eine Flamme schoss aus ihrer linken Hand, und sie stieß einen Schmerzensschrei aus. Zu Tode erschrocken stürzte sie in die Tiefe.
Isis kehrte zu dem Riesen zurück.
»Sammle deinen ka«, bat sie ihn. »Dein Sohn ist deiner Seele nahe und wird für ihn sorgen, und du bist sein eigener ka geworden. Das Licht lässt deine Lebenskraft aufkommen, du wirst nicht sterben. Der Ursprung der Schöpfung und der Erdgott schenken dir einen Tempel und eine ewige Ruhestätte.«
Der Gesichtsausdruck der Statue wirkte nicht mehr ganz so feindselig. Isis ging über den Platz, der sie vom Eingang zum Grab trennte, das jetzt offen stand.
Der Gang, dessen Scheingewölbe mit Kalkstein gefliest war, verfügte über zahlreiche Seitenkammern mit Grabbeigaben. Er führte unter dem Berg zu der Sargkammer, in der der königliche ka mit dem verborgenen Gott in Verbindung stand. Isis versank in tiefe Andacht und versuchte, die Gedanken des großen Monarchen zu erahnen. Da er in die Mysterien eingeweiht war, hatte er hier mit Sicherheit einen wichtigen Bestandteil des Osiris-Kults aufbewahrt. In den Büchern im Haus des Lebens wurde aber keine Reliquie erwähnt. – Was konnte es dann sein?
Siebenmal umrundete die junge Frau den Sarkophag. Als dieser Ritus beendet war, veränderte sich die Stimmung in dem Grabsaal.
Die Decke färbte sich rot, die Wände wurden weiß, der Boden schwarz. Eine Feuerzunge sprang aus dem Sarkophag und deutete auf eine kleine Kammer aus Granit.
In
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