Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
ein Dorn aus Eis. Aber ihr blieb keine Zeit zum Zaudern. Gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt, schob den Lukendeckel auf und kletterte mit Cadrach in den strömenden Regen hinaus.
Der fremdartige Ton schien jetzt von überall zu kommen und war von durchdringender Süße – doch so erbarmungslos und unwiderstehlichwie der Sog einer Rippströmung. Jäh schien er in Höhen aufzusteigen, die das Hörvermögen eines Sterblichen überschritten, sodass nur ein Geist seiner Fülle zurückblieb und Miriamels Kopf von Echos widerhallte, fiepend wie Fledermäuse. Sofort danach senkte er sich genauso schnell nach unten, stürzte in eine so dröhnende Tiefe, dass es schien, als vibrierte er in der steinigen Sprache des Meeresbodens. Miriamel war zumute, als stünde sie in einem summenden Wespennest, groß wie ein Dom. Der Ton durchbebte sie bis in die innersten Winkel ihres Körpers. Ein Teil von ihr drängte darauf, sich im Einklang mit der Melodie zu bewegen, zu schreien und im Kreis herumzurennen. Ein anderer Teil wollte sich nur hinwerfen und mit dem Kopf gegen das Deck hämmern, bis das Geräusch aufhörte.
»Gott steh uns bei, was sind das für schaurige Töne?«, jammerte Cadrach, verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.
Miriamel biss die Zähne zusammen, senkte den Kopf und zwang sich, von den Vorderdeckstufen ganz langsam nach der Reling zu gehen. Jeder Knochen in ihrem Leib schien zu klappern. Sie packte den Mönch am Arm und zerrte ihn hinter sich her, zog ihn wie einen Schlitten über die glitschigen Planken.
»Es ist Gan Itai«, keuchte sie und kämpfte gegen die lähmende Macht des Niskieliedes an. »Wir sind ihr zu nah.«
Plötzlich färbte sich die nur vom gelben Lichtschein der Laternen erhellte samtige Nacht grellblau und weiß. Die Reling vor ihr, Cadrachs Hand in der ihren, die leere Schwärze des Meeres dahinter – das alles brannte sich in einer einzigen explosiven Sekunde in ihre Augen. Einen Herzschlag später blitzte es wieder, und Miriamel sah, festgebannt im zuckenden Licht, wie sich ein glatter runder Kopf über die Backbordreling hob. Als der Blitz verblasste und ein doppelter Donnerschlag ihm folgte, enterte ein weiteres halbes Dutzend knochenloser Schemen das Schiff. Im trüben Laternenlicht glänzten sie wie Schlick. Die Erkenntnis traf Miriamel wie ein Faustschlag. Sie machte kehrt, stolperte, rutschte und hastete nach der Steuerbordseite des Schiffs. Cadrach schleifte sie hinter sich her.
»Was ist das?«, schrie er.
»Es ist Gan Itai!« Vor ihr rannten Matrosen hin und her wie aufgescheuchteAmeisen. Aber es war nicht mehr die Besatzung der Eadne-Wolke, vor der Miriamel sich fürchtete. »Es ist die Niskie!« Regenwasser drang ihr in den Mund, und sie spuckte aus. »Sie singt die Kilpa nach oben!«
»Ädon steh uns bei!«, kreischte Cadrach. »Ädon steh uns bei!«
Wieder flammte ein Blitz und beleuchtete einen Schwarm grauer, froschähnlicher Ungeheuer, die über die Steuerbordreling rutschten und sich auf das Deck fallen ließen. Sie drehten die Gesichter mit den aufgerissenen Mäulern von einer Seite zur anderen und glotzten wie Pilger, die endlich ihr Ziel, das große Heiligtum, erreicht haben. Einer von ihnen streckte ruckartig den dünnen Arm aus und packte einen strauchelnden Matrosen. Es sah aus, als falte er sich um ihn herum, dann zerrte er den schreienden Mann hinab ins Dunkel. Donner krachte. Miriamel wurde übel. Sie drehte sich um und lief, so schnell sie konnte, an der Schmalseite des Schiffs entlang nach der Stelle, an der das Landungsboot hing. Wasser umspülte ihre Füße und Knöchel. Wie in einem Alptraum hatte sie das Gefühl, sich nicht bewegen zu können, immer langsamer zu werden. Ständig quollen weitere graue Wesen aus der Tiefe, wie Ghule in einem Gruselmärchen aus einem ungeweihten Grab. Hinter ihr stieß Cadrach unartikulierte Schreie aus. Über allem schwebte das Lied der Niskie, das alle zum Wahnsinn trieb und die Nacht selbst pochen ließ wie ein mächtiges Herz.
Die Kilpa schienen überall zu sein. Sie bewegten sich mit entsetzlicher, torkelnder Ruckartigkeit. Noch im Tosen des Sturms und Gan Itais Gesang konnte man hören, wie das Deck von den verzweifelten Schreien der bedrängten Seeleute widerhallte. Aspitis und zwei seiner Offiziere standen mit dem Rücken an einem der Masten und wehrten sich gegen ein halbes Dutzend der Seeungeheuer. Ihre Schwerter waren kaum mehr als dünne Lichtstreifen, die blitzend hin und her schossen.
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