Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
jeden Moment selbst neu zu erfinden, unbeständig wie ein Schaumkringel am kochenden Rand der Schöpfung. Miriamel konnte sich gut vorstellen, dass sie nach zwanzig Jahren wiederkehrte und es als heulende Wüste vorfand, oder auch als undurchdringlich dichten Dschungel, einen Klumpen aus Grün und Schwarz, dessen ineinander verflochtene Blätter selbst das Sonnenlicht nicht mehr eindringen ließen.
Während so die Tage vergingen und das Boot und seine kleine Besatzung immer tiefer in das Marschland hineinfuhren, fühlte Miriamel ganz allmählich ihr Herz leichter werden. Sie war noch immer zornig auf ihren Vater und die furchtbare Wahl, die er getroffen hatte, auf Aspitis, der sie betrogen und entehrt hatte, auf den angeblich so gütigen Gott, der ihr das eigene Leben aus der Handgenommen hatte … aber der Zorn schnitt nicht mehr ganz so tief. Wenn alles ringsum so voll von pulsierendem, sich ständig wandelndem Leben war, fiel es schwer, sich an die bitteren Gefühle zu klammern, die sie in den zurückliegenden Wochen beherrscht hatten. Hier, wo die Welt sich auf allen Seiten pausenlos erneuerte, war es fast unmöglich, sich nicht auch selbst wie neugeboren zu fühlen.
»Woher kommen die vielen Knochen?«, fragte Miriamel. Auf beiden Seiten des Flusses war die Uferlinie mit Skeletten übersät, ein Gewirr von Wirbelsäulen und Brustkörben wie die ausgebleichten Spanten gestrandeter Schiffe, seltsam weiß im braunen Schlamm. »Ich hoffe nur, dass es Tierknochen sind.«
»Wir sind alle Tiere«, versetzte Cadrach, »und haben alle Knochen.«
»Was habt Ihr vor, Mönch – wollt Ihr das Mädchen erschrecken?«, warf Isgrimnur erzürnt ein. »Seht Euch die Schädel an. Das waren Cockindrills, keine Menschen.«
»Psst.« Tiamak, am Bug des Bootes, drehte sich um. »Herzog Isgrimnur hat recht. Es sind Krokodilknochen. Aber Ihr müsst jetzt eine Weile still sein. Wir nähern uns Sekobs Teich.«
»Was ist das?«
»Es ist der Grund für alle diese Überreste.« Der Blick des Wranna fiel auf Camaris, der seine geäderte Hand ins Wasser hielt und mit dem versunkenen Blick eines Kindes die kleinen Wellen beobachtete, die sie dort hervorrief. »Isgrimnur! Hindert ihn daran!«
Der Herzog griff nach Camaris’ Hand und zog sie aus dem Wasser. Der alte Mann betrachtete ihn mit mildem Vorwurf, ließ jedoch die tropfende Hand auf seinem Schoß liegen.
»Nun seid bitte eine Zeitlang still«, wiederholte Tiamak. »Und rudert langsam. Spritzt nicht.«
»Was soll das?«, wollte Isgrimnur wissen, verstummte aber, als ihn der Wranna scharf ansah. Zusammen mit Miriamel bemühte sich der Herzog nach besten Kräften, die Ruder sanft und gleichmäßig zu führen.
Das Boot trieb einen Wasserlauf hinab, der so mit den Fahnen von Hängeweiden bedeckt war, dass es aussah, als schütze ihn ein undurchdringlichergrüner Vorhang. Als diese Weiden hinter ihnen lagen, entdeckten sie, dass der Weg sich plötzlich vor ihnen öffnete und in einen großen, stillen See mündete. Banyanbäume wuchsen bis hinab ans Ufer, und ihre Schlangenwurzeln bildeten um den größten Teil des Sees einen Wall aus ineinander verschlungenem Holz. Auf der gegenüberliegenden Seite hörten die Banyanbäume auf, und der Seeboden stieg zu einem breiten, heilen Sandstrand an. Ein paar kleine Inseln in der Nähe dieses Strandes, kaum mehr als Blasen über der Wasseroberfläche, waren das Einzige, das die gläserne Glätte des Sees unterbrach. Dort, wo sie hereingekommen waren, stelzte ein Rohrdommelpaar am Uferrand umher und stocherte im Schlamm. Miriamel erschien der breite Strand als wundervoller Lagerplatz. Der See kam ihr nach den nassen Plätzen voller Schlingpflanzen, an denen sie haltgemacht hatten, wie ein Paradies vor, und sie wollte das auch gerade sagen, als Tiamaks grimmiger Blick sie zum Schweigen brachte. Vermutlich war hier eine Art Heiligtum für den Wranna und sein Volk. Trotzdem brauchte er sie nicht zu behandeln wie ein unartiges Kind.
Miriamel drehte den Kopf von Tiamak weg und schaute auf den See hinaus, um ihn sich einzuprägen, damit sie sich eines Tages das Gefühl tiefen Friedens, das von ihm ausging, wieder ins Gedächtnis zurückrufen könnte. Dabei hatte sie das beunruhigende Gefühl, dass der See sich bewegte und das Wasser zu einer Seite hin abfloss. Gleich darauf erkannte sie, dass es in Wirklichkeit die kleinen Inseln waren, die sich bewegten. Krokodile! Sie war schon früher darauf hereingefallen, hatte Baumstämme und Sandbänke
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