Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
Mann eine Frau und Kinder hat – und vielleicht noch andere Angehörige, die bei ihm leben – und sie alle ernähren kann und trotzdem noch etwas übrigbleibt, dann gibt er das, was er zu viel besitzt, anderen. Als Gegenleistung bittet er vielleicht um ein Boot oder neue Flotts zum Fischen, oder er sagt: ›Ich werde dich um Bezahlung bitten, wenn ich mein Fest veranstalte.‹ Und wenn ihm dann viele Leute etwas schulden, ›ruft er die Krebse zurück‹, wie wir es ausdrücken.Das heißt, er fordert alle, die ihm etwas schulden, zur Rückzahlung auf. Dann lädt er das ganze Dorf zu einem Fest ein. Wenn alle zufrieden sind, ernennt man ihn zum Ältesten. Dann muss er jedes Jahr wieder so ein Fest geben, sonst darf er in dem betreffenden Jahr nicht Ältester sein.«
»Klingt blödsinnig«, brummte Isgrimnur und kratzte sich. Er war das bei weitem begehrteste Ziel der einheimischen Insektenwelt. Zahllose Quaddeln bedeckten bereits sein breites Gesicht. Miriamel verzieh ihm seine Reizbarkeit.
»Auch nicht blödsinniger, als Land vom Vater auf den Sohn zu vererben«, antwortete Cadrach milde, aber mit bissigem Unterton. »Oder es sich überhaupt erst dadurch anzueignen, dass man dem Nachbarn eine Axt über den Schädel haut – wie es bei Eurem Volk noch vor kurzem üblich war, Herzog.«
»Kein Mann sollte besitzen, was er nicht beschützen kann«, erwiderte Isgrimnur, schien aber mehr Wert darauf zu legen, sich an einer schwer erreichbaren Stelle zwischen den Schulterblättern zu kratzen, als darauf, die Debatte fortzusetzen.
»Ich finde«, erklärte Tiamak ruhig, »dass unser Brauch gut ist. Er sorgt dafür, dass niemand verhungert und andererseits keiner seinen Reichtum hortet. Bevor ich in Perdruin studierte, konnte ich es mir gar nicht anders vorstellen.«
»Aber wenn nun jemand nicht Ältester werden will«, bemerkte Miriamel, »dann kann man ihn auch nicht dazu zwingen, das Gehortete herauszugeben.«
»Ja, aber dann genießt er kein Ansehen im Dorf«, grinste Tiamak. »Außerdem entscheiden die Ältesten, was für das Dorf am besten ist, und vielleicht finden sie, dass der ausgezeichnete Fischteich, neben dem ein reicher und selbstsüchtiger Mann sein Haus gebaut hat, jetzt dem ganzen Dorf gehören soll. Es hat wenig Sinn, reich und kein Ältester zu sein – es weckt Eifersucht, versteht Ihr.«
Herzog Isgrimnur fuhr fort, sich zu kratzen. Tiamak und Cadrach begannen eine leise Unterhaltung über die komplizierteren Feinheiten der Wran-Götterlehre. Miriamel, die keine Lust mehr zum Reden hatte, nahm die Gelegenheit wahr, den alten Camaris zu beobachten.
Sie konnte ihn ohne Verlegenheit anstarren, der große Mann schien völlig teilnahmslos, am Treiben seiner Mitmenschen so wenig interessiert wie ein Pferd auf der Koppel am Gespräch der Händler am Zaun. Wenn sie sein zwar keineswegs törichtes, aber doch völlig leeres Gesicht betrachtete, fiel es schwer, sich vorzustellen, dass sie einer Legende gegenübersaß. Der Name Camaris-sá-Vinitta war fast so berühmt wie der von Johan dem Priester, ihrem Großvater, und sie war überzeugt, dass selbst jetzt noch ungeborene Generationen sich ihrer erinnern würden. Und hier saß er nun, alt und ohne Verstand, und die ganze Welt hatte ihn für tot gehalten. Wie war das möglich? Welche Geheimnisse verbarg sein harmloses Äußeres?
Die Hände des alten Ritters erregten ihre Aufmerksamkeit. Von jahrzehntelanger Schwerarbeit in P elippas Schüssel und auf unzähligen Schlachtfeldern waren sie knotig und schwielig geworden, sahen aber noch immer edel aus, groß und sanft und mit langen Fingern. Sie beobachtete, wie er ziellos am zerfetzten Stoff seiner Hose zupfte, und fragte sich, wie sich diese geschickten und fürsorglichen Hände so schnell, wie es in der Legende hieß, in furchtbare Waffen verwandeln konnten. Aber sie hatte seine Kraft gesehen, eindrucksvoll sogar für einen halb so alten Mann. Und in einigen gefährlichen Momenten, die die kleine Gesellschaft hier im Wran erlebt hatte, wenn das Boot zu kentern drohte oder jemand in ein bodenloses Schlammloch gefallen war, hatte er mit verblüffender Schnelligkeit reagiert.
Wieder streiften Miriamels Blicke sein Gesicht. Obwohl sie ihn vor der Begegnung in der Herberge nie gesehen hatte – schließlich war er ein Vierteljahrhundert vor ihrer Geburt verschwunden –, lag etwas beunruhigend Vertrautes in seinen Zügen. Ein plötzliches, geheimnisvolles Aufblitzen, das sie nur aus einem ganz bestimmten Winkel
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