Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
gewöhnlich waren sie vage und unbestimmt.
»Warum sind die Nornen damals nach Norden gezogen?«
Aditu beugte sich nieder und pflückte einen Zweig von einer Kräuselwinde mit weißen Blüten und dunklen Blättern. Sie knotete ihn so in ihr Haar, dass er an ihrer Wange hing. »Die beiden Familien, Zida’ya und Hikeda’ya, hatten einen Streit. Es ging um die Sterblichen. Utuk’ku fand, dass ihr Tiere seid – genauer gesagt, niedriger als Tiere, denn wir aus dem Garten töten kein Tier, wenn wir es vermeiden können. Die Kinder der Morgendämmerung teilten die Auffassung der Wolkenkinder nicht. Aber es gab noch andere Streitpunkte.« Sie hob den Kopf zum Mond. »Dann starben Nenais’u und Drukhi. Das war der Tag, an dem der Schatten fiel, und er liegt noch immer auf uns.«
Kaum hatte er sich gefreut, Aditu so aufrichtig sprechen zu hören, als ihre Reden auch schon wieder dunkel wurden … Aber Simon hielt sich nicht bei ihrer unbefriedigenden Erklärung auf. Im Grunde wollte er gar keine weiteren Namen hören. Was sie ihm bisher erzählt hatte, war überwältigend genug gewesen, und außerdem wollte er auf etwas ganz anderes hinaus. »Und als die beiden Familien sich voneinander trennten«, sagte er eifrig, »fand das hier statt, nicht wahr? Alle Sithi kamen mit Fackeln in den Feuergarten. Und dann standen sie im Abschiedshaus um ein Gebilde aus glühendem Feuer herum und schlossen ihren Pakt.«
Aditu wandte die Augen von dem Mondsplitter ab und richtete den katzenhellen Blick auf ihn. »Wer hat dir das erzählt?«
»Ich habe es gesehen! Als ich hier meine Wache hielt. In der Nacht, bevor ich ein Ritter wurde.«
»Du hast es gesehen?« Aditu legte die Finger um sein Handgelenk.»Erzähl mir mehr, Seoman. Wir wollen noch ein Stück gehen.«
Er beschrieb ihr seine Vision und danach auch das, was sich später ereignet hatte, als er in Jirikis Spiegel schaute.
»Was dir widerfahren ist, als du die Schuppe hierherbrachtest, beweist, dass der Rhao iye-Sama’an seine Macht nicht verloren hat«, meinte sie langsam. »Aber mein Bruder tat recht, dich vor der Traumstraße zu warnen. Sie ist inzwischen sehr gefährlich, sonst würde ich selbst noch heute Nacht den Spiegel nehmen und versuchen, Jiriki zu finden, und ihm berichten, was du mir gesagt hast.«
»Warum?«
Aditu schüttelte den Kopf. Ihr Haar umwölkte sie wie Rauch. »Wegen der Dinge, die du bei deiner Wache gesehen hast. Das ist erschreckend – dass du etwas aus den Älteren Tagen gesehen hast, und zwar ohne einen Zeugen …« Wieder vollführte sie eine ihrer seltsamen Fingergebärden, so verschlungen und gewunden wie ein Korb zappelnder Fische. »Entweder steckt etwas in dir, das Amerasu übersehen hat – obwohl ich kaum glauben kann, dass sich Erste Großmutter so grundlegend geirrt haben sollte –, oder es geschieht etwas, das über alles bisher Erwartete hinausgeht. Ich mache mir große Sorgen. Dass das Erddrachenauge dir so unaufgefordert ein Gesicht aus der Vergangenheit gezeigt hat …« Sie seufzte. Simon starrte sie an. Sie sah tatsächlich besorgt aus – etwas, das er nie für möglich gehalten hätte.
»Vielleicht war es das Drachenblut«, schlug er vor und wies auf seine Narbe und die weiße Haarlocke. »Jiriki hat gesagt, ich sei gezeichnet.«
»Vielleicht.« Aditu schien nicht überzeugt. Simon war ein wenig gekränkt. Er war ihr wohl nicht außergewöhnlich genug?
Sie gingen weiter, überquerten noch einmal die zerbrochenen Steinplatten des Feuergartens und näherten sich der Zeltstadt. Die meisten Festbesucher waren zu Bett gegangen. Nur wenige Feuer brannten noch. Um sie herum saßen ein paar dunkle Gestalten, die redeten, lachten und sangen.
»Ruh dich aus, Seoman«, sagte Aditu. »Du schwankst schon.«
Simon wollte etwas einwenden, wusste aber, dass sie recht hatte. »Und was ist mit Euch? Wo wollt Ihr schlafen?«
Ihre ernste Miene verwandelte sich in ehrliche Belustigung. »Schlafen? Nein, Schneelocke, heute Nacht will ich wandern und nicht schlafen. Es gibt vieles, über das ich nachdenken muss. Außerdem habe ich den Mond seit fast einem Jahrhundert nicht mehr auf Sesuad’ras zerbrochene Steine scheinen sehen.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Schlaf wohl. Morgen früh gehen wir zu Josua.«
Sie drehte sich um und verschwand, lautlos wie Tau. Ihr schlanker Schatten verschmolz mit dem grasigen Gipfel.
Simon rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Auch er musste über vieles nachdenken. Was für eine Nacht!
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