Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
bückte sich und rieb sich den Zeh, der schmerzhaft pochte. »Gottes blutiger Baum !«, fluchte er unterdrückt.
»Du kannst hier nachts schlecht sehen, Seoman«, sagte Aditu. »Es tut mir leid. Gehen wir.«
Simon wollte sich nicht verhätscheln lassen. »Gleich. Ich bin in Ordnung.« Er drückte noch einmal seinen Zeh und fragte: »Warum hilft Utuk’ku Ineluki?«
Aditu tauchte aus dem Mondschatten auf und nahm seine Hand in ihre kühlen Finger. Sie wirkte besorgt. »Wir wollen draußen weiterreden.« Sie führte ihn ins Freie. Ihr Haar flog auf und wehte im Wind. Als er neben ihr herging, streichelte es sein Gesicht. Es hatte einen starken, angenehmen Duft, würzigsüß wie Kiefernrinde.
Als sie wieder im offenen Gelände standen, ergriff sie auch seine andere Hand und sah ihn mit hellen Augen an, die im Mondlicht wie Bernstein schimmerten. »Ganz gewiss ist hier nicht der Ort, diese Namen zu nennen oder auch nur an sie zu denken«, erklärte sie streng, lächelte dann aber plötzlich schalkhaft. »Außerdem glaube ich nicht, dass ich mit einem so gefährlichen jungen Sterblichen wie dir an einem so dunklen Ort allein sein sollte. Oh, was sie in eurem Lager für Geschichten von dir erzählen, Seoman Schneelocke!«
Simon ärgerte sich, war jedoch andererseits nicht wenig geschmeichelt. »Wer immer ›sie‹ sind, sie haben keine Ahnung, wovon sie reden.«
»Du bist ein seltsames Tier, Seoman.« Ohne ein weiteres Wort beugte sie sich vor und küsste ihn, keine kurze, keusche Berührung wie damals vor vielen Wochen bei ihrem Abschied, sondern der warme Kuss einer Geliebten, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Ihre Lippen waren so kühl und süß wie die Blütenblätter einer Rose am Morgen.
Viel zu früh löste sie sich sanft von ihm. »Dieses kleine Menschenmädchen fand es schön, dich zu küssen, Seoman.« Ihr Lächelnkehrte zurück, spöttisch, keck. »Ein seltsamer Brauch, nicht wahr?«
Simon, völlig verwirrt, schüttelte den Kopf.
Aditu nahm ihn beim Arm, zog ihn weiter und ging neben ihm her. Sie bückte sich und hob die weggeworfenen Stiefel auf. So wanderten sie eine kurze Strecke durch das nasse Gras an der Mauer der Sternwarte. Aditu summte eine kleine Melodie, bevor sie weitersprach. »Du hast gefragt, was Utuk’ku will.«
Simon, noch immer fassungslos, schwieg.
»Ich kann es dir auch nicht sagen, zumindest nicht mit Sicherheit. Utuk’ku ist das älteste vernunftbegabte Wesen in ganz Osten Ard, Seoman, und weit mehr als doppelt so alt wie das nächstälteste. Glaub mir, ihre Gedanken sind so seltsam und tiefgründig, dass kein anderer sie nachvollziehen kann. Vielleicht war Erste Großmutter die Letzte, die es hätte tun können. Doch wenn ich eine Vermutung äußern müsste, würde ich sagen: Sie sehnt sich nach dem Nichtsein.«
»Und was heißt das?« Simon fragte sich allmählich, ob er wirklich wieder nüchtern war, denn um ihn herum drehte sich alles, und es verlangte ihn danach, sich hinzulegen und zu schlafen.
»Wenn sie sich aber den Tod wünschte«, antwortete Aditu, »würde das nur Vergessen für sie selbst bedeuten. Sie ist des Lebens müde, Seoman, aber sie ist die Älteste . Vergiss das nie. Seit man Lieder singt in Osten Ard und noch viel länger ist Utuk’ku auf der Welt. Als einziges aller noch lebenden Geschöpfe sah sie die verlorene Heimat, die unser Geschlecht gebar. Ich fürchte, sie erträgt den Gedanken nicht, dass andere weiterleben, wenn sie von uns gegangen ist. Zwar kann sie, auch wenn das ihr sehnlicher Wunsch ist, nicht alles vernichten, aber vielleicht hofft sie, einen Weltenbrand herbeizuführen, der so gewaltig ist, dass ihr unzählige Lebewesen ins Vergessen folgen müssen. Dann wäre Osten Ard entvölkert.«
Von Entsetzen gepackt blieb Simon stehen. »Was für eine grauenvolle Vorstellung!«
Aditu zuckte die Achseln, eine geschmeidige Gebärde. Sie hatte einen bezaubernden Hals. »Utuk’ku ist grauenvoll. Sie ist wahnsinnig, Seoman, obwohl ihr Wahnsinn so dicht gewoben und vertracktist wie das feinste Juya’ha . Sie ist vielleicht die Klügste aller Gartengeborenen.«
Der Mond hatte sich von einer Wolkenbank befreit und hing am Himmel wie die Sichel eines Schnitters. Simon wollte schlafen – sein Kopf war so schwer –, auf der anderen Seite aber diesen einmaligen Moment verlängern. Es war sehr selten, die Sithi in einer Stimmung anzutreffen, in der sie Fragen beantworteten, und noch seltener, dass sie ohne Umschweife antworteten, denn
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