Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
und »Rette uns!« Simon wollte ihnen sagen, dass er nicht dieMacht dazu besaß, aber die verzweifelten Gesichter zogen weiter an ihm vorbei, unaufhörlich und voneinander nicht zu unterscheiden wie die Speichen eines sich drehenden Rades. Der Stoß ihrer Opfergaben wuchs. Andere Puppen, sommergelbe Weizengarben und Blumensträuße, deren bunte Blütenblätter so künstlich wirkten wie der blau angestrichene Himmel, türmten sich vor ihm auf, Obstkörbe und Käselaibe, sogar Tiere von den Bauernhöfen, Ziegen und Kälber, deren Blöken die aufdringlichen Stimmen noch übertönte, wurden vor ihn hingestellt.
»Ich kann euch nicht helfen!«, rief Simon. »Es gibt nichts, das ich tun kann!«
Aber der endlose Strom der Gesichter riss nicht ab. Das Schreien und Stöhnen wurde immer lauter, ein Ozean von Stimmen, von dem Simon die Ohren wehtaten. Als er wieder nach unten schaute, entdeckte er, dass jemand ein Kind auf die überquellende Masse der Opfergaben gelegt hatte wie auf eine Totenbahre. Es hatte ein ernstes Gesicht und große Augen.
Gerade wollte Simon die Arme nach ihm ausstrecken, als sein Blick auf die Puppe fiel, die man ihm zuerst dargebracht hatte. Sie verfaulte vor seinen Augen, wurde schwarz und zerfiel, bis nur noch ein Fleck auf dem schrecklich grellen Gras übrigblieb. Auch die anderen Opfergaben veränderten sich. Sie verwesten mit grausiger Schnelligkeit – die Früchte bekamen dunkle Stellen und Vertiefungen und schienen fast zu schäumen, als sich eine Decke aus Schimmel über sie legte. Die Blumen verdorrten zu ascheähnlichen Flocken, der Weizen zerfiel zu grauem Staub. Voller Grauen beobachtete Simon, wie selbst die angepflockten Tiere aufquollen und in wenigen Herzschlägen von einer wimmelnden Masse sich krümmender weißer Maden skelettiert wurden.
Simon wollte hastig vom Thron springen, aber der sonderbare Sitz fing an, unter ihm zu bocken, wegzurutschen und sich aufzubäumen wie bei einem Erdbeben. Er stürzte mit den Knien in den Unrat. Wo war das Kind? Wo? Es würde vergehen wie alles andere, zu Fäulnis zerbröckeln, wenn er es nicht rettete! Er warf sich nach vorn und wühlte in dem faulenden, stinkenden Kompost. Da war keine Spur von dem Kind – aber dort blinkte etwas Goldenes, ganztief unten … Simon bohrte sich in die schwarze Masse, bis sie ihn auf allen Seiten umgab, ihm die Nase verstopfte und den Mund füllte wie Friedhofserde. War das Gold, was dort aus dem Schatten glänzte? Er musste tiefer graben. Hatte das Kind nicht ein goldenes Armband getragen? Oder war es ein Ring gewesen, ein goldener Reif? Tiefer. Das Atmen fiel ihm so schwer …
Er erwachte im Finstern. Nach kurzer Panik kämpfte er sich unter seinem Mantel hervor und kroch zum Zelteingang. Dort löste er mit unbeholfenen Fingern die Klappe, um nach den wenigen Sternen zu sehen, die nicht von Wolken verdeckt wurden. Langsam hörte sein Herz auf zu hämmern. Er befand sich in dem Zelt, das er mit Binabik teilte. Geloë, Strangyeard und der Troll hatten ihm geholfen, von der Sternwarte dorthin zu stolpern. Als sie ihn auf seinen Strohsack gelegt hatten, war er sofort eingeschlafen und hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Aber da war doch noch ein anderer Traum gewesen – die Reise auf der Traumstraße, ein Schattenhaus und dann ein Geisterschiff? Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern, was zu welchem Traum gehört hatte. Er fühlte sich benommen und sein Kopf war schwer.
Simon steckte die Nase ins Freie und atmete die kalte Luft in tiefen Zügen ein. Allmählich wurden seine Gedanken wieder klar. Sie waren zusammen zur Sternwarte gegangen, um auf der Traumstraße zu wandern, hatten jedoch Miriamel nicht gefunden. Das war das eigentlich Wichtige, viel wichtiger als Alpträume von Puppen, Kindern und goldenen Ringen. Sie hatten versucht, mit Miriamel Verbindung aufzunehmen, aber irgendetwas hatte sie daran gehindert, genau wie Geloë es vorausgesagt hatte. Simon hatte nicht aufgeben wollen. Er hatte vorwärtsgedrängt, als die anderen zurückblieben, und war beinahe in etwas Übles hineingeraten – etwas wirklich sehr Übles.
Aber ich hatte sie fast gefunden! Fast! Ich weiß, ich könnte es schaffen, wenn ich es nochmals versuchte!
Doch sie hatten Geloës letzte Kräuter verbraucht, und bald würden sie die Straße der Träume nicht mehr betreten können. Die Chance war vertan – es sei denn …
Die Idee – eine erschreckende, kluge Idee – begann gerade Gestalt anzunehmen, als er aus seiner
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