Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
Tauben ein Lied,
ah-ye, ah-ye, sang für die Tauben die ganze Nacht.
Shoaneg Schnellruder hörte ihr zu,
lauschte ihr, liebte sie. Stark wie ein Baum
war er, doch hatte er keine Kinder,
ah-ye, ah-ye, keinen, der seinen Namen trug.
Shoaneg schenkte Rotblume ein Wort,
warb um sie, gewann sie. Schnell wie Libellen war ihre Liebe,
und sie ging mit ihm in sein Haus.
Ah-ye, ah-ye, ihre Feder hing über seiner Tür.
Inihe, sie gebar einen Knaben,
nährte ihn, liebte ihn. Süß war er wie kühler Wind,
und er trug Schnellruders Namen.
Ah-ye, ah-ye, Wasser war sicher für ihn wie Sand.
Das Kind wuchs auf und begann zu wandern,
ruderte, rannte. Schnellfüßig war es wie ein Kaninchen,
streifte umher, fern von der Heimat.
Ah-ye, ah-ye, wurde fremd dem Herd.
Eines Tages trieb sein Boot leer an,
kreisend, treibend, nussschalenleer.
Rotblumes Kind war fort und verschwunden,
ah-ye, ah-ye, war verweht wie Distelflaum.
Shoaneg befahl ihr, vergiss ihn;
herzlos, gedankenlos war er, ein Nestling,
der von zu Hause töricht fortfliegt.
Ah-ye, ah-ye, sein Vater verfluchte seinen Namen.
Inihe konnte es nicht glauben,
vermisste, beklagte ihn. Traurig war sie wie fallende Blätter,
ihre Tränen durchnässten die Bodenbinsen,
ah-ye, ah-ye, sie weinte um den verlorenen Sohn.
Rotblume brannte darauf, ihn zu finden,
hoffend, betend. Wie eine jagende Eule war sie,
immer suchte sie ihren Sohn.
Ah-ye, ah-ye, aufspüren würde sie den Verschollenen.
Shoaneg verbot ihr das Suchen,
schrie, befahl ihr, summte vor Zorn wie ein Bienenstock.
Wenn sie ging, war sie verstoßen,
ah-ye, ah-ye, ihre Feder würde er von seiner Tür blasen …«
Tiamak brach ab. Eine Besatzung schreiender Wranna stakte mühsam einen Schleppkahn in einen schmalen Seitenkanal. Der Kahn schrammte hart gegen die Pfähle des Kais, die aus der Frontseite der Herberge herausstanden wie faule Zähne. Das Wasser sprudelte und schlug kleine Wellen. Tiamak sah sich nach Isgrimnur um, aber der Herzog war nicht mehr im Zimmer. Nur der alte Mann saß da, dieAugen ins Nichts gerichtet, auf dem ausdruckslosen Gesicht ein kleines, geheimnisvolles Lächeln.
Es war lange her, dass Tiamaks Mutter ihm dieses Lied vorgesungen hatte. Die Geschichte von Inihe Rotblumes furchtbarer Entscheidung war ihr Lieblingslied gewesen. Der Gedanke an seine Mutter schnürte Tiamak die Kehle zusammen. Er hatte ihr Vertrauen enttäuscht – das Vertrauen seines Volkes. Was sollte er nun tun? Hier bei diesen Trockenländern bleiben und warten? Zu Geloë und den anderen Schriftrollenträgern reisen, wie sie ihn aufgefordert hatten? Oder mit Schande bedeckt in sein heimatliches Haindorf zurückkehren? Wohin er auch ging, der Geist seiner Mutter würde ihm folgen und trauern, dass ihr Sohn sich von seinem Volk abgewendet hatte.
Er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Bitteres gebissen. In einem hatte Isgrimnur jedenfalls recht. Heutzutage, in dieser trüben Zeit, schien das Leben tatsächlich nur aus schwierigen Entscheidungen zu bestehen.
»Zieht sie zurück!«, schrie die Stimme. »Schnell!«
Maegwin wurde wach und erkannte, dass sie senkrecht nach unten ins weiße Nichts starrte. Es war so seltsam, dass sie kurz glaubte, noch immer zu träumen. Sie wollte sich vorbeugen und durch dieses Nichts schweben, wie sie durch die graue Leere des Traums geschwebt war, aber etwas hinderte sie daran. Keuchend spürte sie die grimmige, beißende Kälte. Weit hinausgelehnt stand sie an einem Abgrund voll wirbelnder Schneeflocken. Rauhe Hände umklammerten ihre Schultern.
»Haltet sie fest!«
Maegwin warf sich nach hinten und versuchte sich verzweifelt in Sicherheit zu bringen. Sie wehrte sich gegen die beiden Männer, die sie gepackt hatten. Als sie auf allen Seiten festen Boden unter sich spürte, stieß sie scharf die Luft aus und erschlaffte. Schon füllte das Schneegestöber die Vertiefungen, die ihre Knie am Rand der Klippe zurückgelassen hatten. Ein Stück weiter war die Asche ihres kleinen Lagerfeuers fast unter einer weißen Decke verschwunden.
»Herrin Maegwin, wir sind gekommen, um Euch zu helfen!«
Benommen schaute sie sich um. Zwei Männer hielten sie noch immer in festem Griff. Wenige Schritte hinter ihr stand ein dritter. Alle drei waren in dicke Mäntel gehüllt und hatten Schals über ihre Gesichter gezogen. Einer trug das Wappen des Croich-Stammes auf seiner zerschlissenen Kleidung.
»Warum habt Ihr mich zurückgeholt?« Ihre Stimme kam langsam und
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