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Das Geheimnis der Haarnadel

Das Geheimnis der Haarnadel

Titel: Das Geheimnis der Haarnadel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Fitzgerald Heard
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Erscheinung hatte durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit den grimmigen Wasserspeiern, die, das Kinn in die Hand gestützt, auf dem Dach von Notre Dame stehen und Ausschau über Paris halten. Vielleicht brütete er einen Schlachtplan aus, wie er das Haus womöglich doch noch für einen Sommerurlaub mieten konnte. Da ich mir nicht ganz sicher war, ob es mir, so es denn möglich wäre, wirklich Freude machen würde – Mord ist nun einmal nicht mein Metier – und ich zudem nicht einmal einer so gewitzten Person wie meinem Freund große Chancen einräumte, daß es ihm gelänge, kümmerte ich mich nicht weiter um ihn. Der Blick über die Landschaft hatte etwas wunderbar Erfrischendes, und ich war fest entschlossen, ihn zu genießen und mir vom Sonnenlicht, der sanften Brise und von der Bequemlichkeit und fraglosen Sicherheit unseres Aussichtspunktes die Eindrücke des Vormittags vertreiben zu lassen.
    Es vergingen einige Minuten, dann kam Mr. M. zu mir herüber und schlug vor, daß wir, wenn ich mir einen Eindruck von der Gegend verschafft hätte, wieder hinuntergehen sollten. Ich stimmte zu, auch wenn ich mit Vergnügen eine halbe Stunde dort oben damit hätte zubringen können, verträumt den Blick über diese helle und beruhigende Landschaft schweifen zu lassen. Ich pflichtete ihm von ganzem Herzen bei, als er Mrs. Sprigg sagte, wie sehr er die Aussicht genossen habe. Ihr mütterlicher Stolz schloß die Landschaft ebenso mit ein wie das Haus, in dem sie diente.
    »In Shropshire geboren, in Shropshire großgeworden«, erklärte sie uns. »Und wir machen uns zwar nicht viel aus den neunmalklugen Burschen, die nie wieder nach Hause zurückkommen und trotzdem neunmalkluge Verse über uns schreiben, aber wenn ich selbst Dichter wäre, würden mir, wenn ich mich hier in unserem Lande umsähe, die Themen niemals ausgehen.«
    Weil uns diese gemeinsame Vorliebe verband, verstanden wir uns nun so ausgezeichnet, daß sie, als Mr. M. sie bat: »Meinen Sie, ich könnte morgen wiederkommen und einen zweiten Blick von diesem Pisga werfen? Heute wußte ich ja nicht, welcher Leckerbissen mich erwartete, und deshalb hatte ich meinen Feldstecher nicht dabei«, ihm dies mit Freuden gestattete. Ich muß sagen, der Gedanke, mit einem Feldstecher einen Ausblick zu betrachten, den ein jeder, der wirklich Sinn für Landschaften hat, als Einheit in sich aufnehmen muß – alles auf einen Blick, wie die Franzosen sagen –, bewies mir, wie bei meinem alten Freund leider Gottes der Wissenschaftler mit seinem Bestreben, die Dinge zu zergliedern, Vorrang vor dem Künstler hatte, der es zufrieden ist zu schauen und selbst ein Teil der Schönheit eines Ortes zu werden.
    Wir spazierten zu dem Städtchen zurück. Im Gasthaus, wo unser Freund, der Inspektor, Zimmer für uns bestellt hatte, fanden wir diesen, seine Koffer fertig gepackt, im Begriffe, den Abendexpreß zurück nach London zu nehmen. Mr. M. ließ ihn wissen, daß wir noch einen Tag oder vielleicht auch zwei länger zu bleiben gedachten, denn, so erklärte er ihm, in der Hoffnung, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wollten wir sehen, ob ein und dasselbe Haus sowohl eine interessante Aufgabe als auch einen bequemen Ruheort zu bieten imstande sei. Ich weiß noch, wie mir besonders auffiel, daß er diese launige Bemerkung zum zweiten Mal machte. Vielleicht spürte er selbst, daß sie so dünn war, daß man sie »zweimal auftragen« mußte, wie Anstreicher zu sagen pflegen. Das Interessante für mich bestand dabei darin, daß solche ärmlichen kleinen Bonmots ebenso verläßlich wie Zuckungen der Gesichtsnerven belegen, daß Männern großer Gedankenschärfe wie Mr. M. zwangsläufig (und ich bin nicht minder in der Lage, Beobachtungen anzustellen und Beweise zu führen wie er) die zarte Berührung der Oberfläche, der Sinn für Nuance und Stil, welches die natürlichen Gaben des Mannes von Takt und Geschmack – kurz gesagt, des Künstlers – sind, versagt bleiben müssen.
    Unser Inspektor entgegnete einfach nur: »Nun, ich danke Ihnen, daß Sie mir meine Skrupel bestätigt haben. Der Schluß, zu dem ich nun gekommen bin, ist weniger dramatisch als der erste, doch ist er, dessen bin ich gewiß, nicht nur überzeugender, sondern auch endgültig, und nicht nur endgültig, sondern sogar ein glücklicherer Abschluß. Ich muß es Ihnen unter uns, denn Sie sind ja im Grunde ein Kollege, eingestehen, daß es mir immer eine große Erleichterung ist, wenn das, was ein Selbstmord zu sein

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