Das Geheimnis der Haarnadel
Sankey gekümmert – der ja nicht die Art von Mensch war, mit dem andere sich abgegeben hätten und offensichtlich war Sankey sehr auf ihn angewiesen. Er ist ein Mensch – ich habe die üblichen Ermittlungen angestellt –, den andere ebenso in ihr Herz geschlossen haben wie unser Dienstmädchen hier. Und noch ein Routinepunkt: Er ist ein Mann von beträchtlichem Vermögen und hat stets friedlich und großzügig mit seinen Nachbarn hier zusammengelebt. Der Pfarrer sagte, zwar könne er ihn nicht unter die regelmäßigen Kirchgänger zählen, doch wenn es um wohltätige Zwecke gehe, könne er sich auf seine Großherzigkeit stets verlassen. Nein, selbst wenn etwas in unserer Beweisaufnahme gegen ihn spräche – und das tut es nicht –, käme er nicht in Betracht, weil er nicht das geringste Motiv hätte. Ja, die Sache ist ihm so nahegegangen – er ist ein sensibler Mensch –, daß er für ein paar Tage verreist ist. Nachdem, so darf ich hinzufügen«, beeilte sich der Inspektor mit der Miene eines Beichtvaters zu sagen, »er sich in aller Form bei mir erkundigt hatte, ob es ihm gestattet sei. Jawohl, ein sympathischer, offener Mann, wie Sie ja aus den Worten unserer schwatzhaften Jane bereits wissen!«
Mr. M. machte eine Pause, und ich dachte schon, nun könnten wir alles für erledigt erklären. Doch plötzlich, zu meinem grenzenlosen Erstaunen, wurde ich aufgerufen, die Angelegenheit auszudehnen!
»Wissen Sie«, hob Mr. M. beinahe kleinlaut an, »wissen Sie, ich habe meinen Freund Mr. Silchester ein wenig unter falschen Versprechungen hierher gelockt. Aber seine Ansichten sind mir schon oft nützlich gewesen, so daß ich, auch wenn er kein Interesse an meiner Arbeit zeigt, seine Talente – die meine eigenen so vorteilhaft ergänzen – schätze und mir bisweilen insgeheim zunutze mache! Doch heute haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, wir haben unser Urteil zu einem gewaltsamen Tod abgegeben und sind zugleich auf der Jagd nach etwas ganz anderem. Wir tragen uns mit dem Gedanken, ein Haus auf dem Lande zu mieten, und ohne Frage ist das, was wir gerade besichtigt haben, ein erlesenes Exemplar und wird vielleicht, angesichts des Schattens, der derzeit darauf fällt, günstig zu haben sein. Mich persönlich würde es nicht beunruhigen zu wissen, daß der vorherige Besitzer vom Garten aus freiwillig den Weg ins große Unbekannte angetreten hat. Jedenfalls bin ich froh, daß ich dies Haus besichtigen konnte, und da diese Art von Zwillingen ebenso interessant wie selten ist – meinen Sie, daß es vielleicht möglich wäre, bevor wir in die Stadt zurückkehren, auch einen Blick auf das Gegenstück auf der anderen Straßenseite zu werfen?«
Der Inspektor hatte offensichtlich große Achtung vor Mr. Mycroft und war geschmeichelt, daß er ihn, der von der Gewißheit des Mordes überzeugt gewesen war, nun zur Gewißheit des Selbstmordes bekehrt hatte – wahrhaft ein Triumph in dem gnadenlosen Wettstreit des Verstandes, in dem sich die beiden offenbar gerne maßen. So antwortete er denn: »Ja, ich glaube, das ließe sich einrichten. Ich bin die letzten beiden Wochen dort ein- und ausgegangen und kenne die Haushälterin inzwischen recht gut. Wie unsere Jane schon sagte, ist auch sie eine nette Frau; obwohl es schon seltsam ist, finden Sie nicht auch, wie oft sich nette Frauen gegenseitig nicht gerade mögen?«
Während er dies sagte, war er schon die Steintreppe des gegenüberliegenden Hauses emporgestiegen, eine Treppe, die derjenigen glich, die wir soeben hinter uns gelassen hatten. Die Tür öffnete sich dermaßen rasch, daß ich den Eindruck hatte, man hätte uns vielleicht beobachtet, und wir wurden ebenso herzlich willkommen geheißen wie auf dem anderen Grundstück. Der Inspektor erklärte, daß Mr. Mycroft das andere Haus besichtigt habe, und die Tatsache, daß es sich um zwei von gleicher Bauweise handle, fasziniere ihn so sehr, daß er hoffe, sie werde so freundlich sein, uns, wie Mr. Milium, dessen sei er gewiß, es sicher gewünscht hätte, durch Haus und Garten zu führen. Sie war eine üppige, gutmütige, geschäftige Person in einem weiten und dennoch eng anliegenden Chintzkleid, und sie raschelte und gluckte vor uns her wie eine riesenhafte Henne.
Als die Führung begann, sagte der Inspektor: »Ich werde Sie Mrs. Spriggs fähigen Händen überlassen. Sie finden mich im Gasthaus, wenn Sie wieder in der Stadt sind.«
»Machen Sie sich nicht die Mühe, die Kutsche zu schicken«, rief Mr.
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