Das Geheimnis der Haarnadel
eine lange Geschichte darzulegen, bei der auch die kleinste Einzelheit von entscheidender Bedeutung für das Gericht sein kann.
Kapitel III
Mr. Miliums »Warum?«
Sankey und ich, wir lernten uns vor dreiundzwanzig Jahren kennen. Wir steckten damals beide noch in jener langwierigen und reichlich überflüssigen Lebensphase, die man den Erwerb einer umfassenden Bildung nennt, und gaben vor, uns mit dem zu beschäftigen, was bisweilen euphemistisch als Doktorandenstudium bezeichnet wird. Wir kamen mit etlichen weiteren Nichtstuern dieser Art zusammen – jungen, wohlhabenden Menschen, die sich unverbindlich ein wenig mit Kunst beschäftigten oder sich mit den vornehmeren Sparten des Journalismus die Zeit vertrieben. Wir waren, so versicherten wir uns – unser lockeres Grüppchen, meine ich –, die dritte und letzte Blüte der Londoner Intelligenz. Zum ersten Mal war sie draußen in Chelsea zur Blüte gekommen, jenem westlichen Vorort am Fluß, der seit Turner, seit dessen Säufern und scharlachroten Sonnenuntergängen, als Treffpunkt der Boheme galt; dann kam Whistler, der sie mit seinem ätzenden Witz in >Battersea Bridge< und den anderen >River Nocturnes< in Silber und Lapislázuli tauchte; und ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung mit der schwülen Atmosphäre des Fin de Siècle, mit dem Yellow Book und den Skandalen Oscar Wildes in der Tite Street, bevor sie dann allesamt zum Überwintern in das Zuchthaus von Reading gesteckt wurden.«
Ich mußte ein wenig lächeln über diesen kurzgefaßten Abriß der Kulturgeschichte West-Londons. Mr. Milium, das spürte ich sogleich, mußte früher einmal ein Spötter gewesen sein, und ich bin immer dankbar für ein wenig Humor. Er ist stets ein gutes Mittel, meinen leicht erschlaffenden Appetit auf das Ernsthafte wiederzubeleben. Mr. M. brauchte keinen solchen Aperitif, und da er nun ganz in der Rolle des Richters aufgegangen war, ermunterte er ihn lediglich mit einer Verbeugung weiterzusprechen.
»Nun«, fuhr Mr. Milium in seinem ruhigen, sachlichen Tonfall fort, beinahe als lese er uns laut aus einem Band mit Memoiren vor, »bald nach dem Ersten Weltkrieg zog die Gesellschaft dann aus Chelsea fort, die selbsterklärte Crème, der Rahm, der die Milch gewöhnlicherer menschlicher Talente krönte, floß davon. Dieser Treck des selbsterwählten Volkes ließ sich sogleich in einem anderen Winkel Londons nieder, Bloomsbury – einem Viertel, das einst als Inbegriff der Respektabilität gegolten hatte. Das gehörte zu ihrer Pose dazu – als Bohemiens mitten im Zentrum viktorianischer Strenge zu leben.
Und dann kamen wir, die dritte und letzte Phase des säuerlich guten Geschmacks und der hohlen Manieren. Wir waren fest entschlossen, jene >zweite Welle<, die sich für endgültig und unübertrefflich hielt, zur Provinz zu deklassieren – ihnen zu zeigen, daß die, die sich als Bewohner der Metropole gerierten, in Wirklichkeit in die Gartenvorstadt gehörten. Sie waren einfach nur eine Kreuzung aus London und Cambridge – ein passabler französischer Akzent, ein Braque oder Picasso an der Wand, vielleicht eine Wohnung in Paris, und ein wenig auf George Moore getrimmt. Wir hingegen waren tatsächlich nahezu kosmopolitisch. Und so wählte sich unsere Gruppe einen anderen ärmlichen Vorort, den wir kulturell aufzuwerten gedachten – Notting Hill. Wir nannten uns den Notting Hill-Nukleus.
Wir stilisierten uns zur Gruppe. Wir einigten uns auf bestimmte Skurrilitäten, die uns von jenen früheren Intellektuellenzirkeln unterscheiden sollten, die sich ebenfalls um Unverwechselbarkeit und Exklusivität bemüht hatten. Wir alle waren, wie das Who’s Who es zu formulieren pflegt, >im Ausland erzogen< worden. Keiner von uns war auf einer der großen Privatschulen gewesen, und fast alle hatten wir Teile unserer Ausbildung an ein oder zwei bedeutenden kontinentalen Universitäten absolviert. Wir fanden London entzückend altmodisch. Seine schäbigen Straßen und seine noch schäbigeren Hotels hatten für uns etwas von jenem exotischen Flair, das das verlauste Gewimmel eines Basars in Istanbul für den gewöhnlichen Globetrotter hat. Wir agierten in unserem Leben nicht, wir reagierten. Wir legten es darauf an, stets das zu genießen, was auch der breiten Masse gefiel – doch immer aus >falschen<, abwegigen Gründen. Wir richteten uns nach edwardianischem Geschmack ein – mit Sachen, die noch nicht antik, sondern einfach nur aus der Mode gekommen waren. Wir waren
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