Das Geheimnis der Haarnadel
gerechnet hatte. Ich konnte es mir nur so erklären, daß Mr. M. wie ein Medizinmann im australischen Busch einen anderen Eingeborenen (wie man mir einmal erzählt hat) mit Hilfe eines ähnlich wertlosen Bündels hypnotisieren kann – um so wirkungsvoller, je absurder es dem vernünftigen Auge erscheint –, plötzlich seinen Gesprächspartner, der im Begriff gewesen war sich ihm zu entziehen, mit einem Bann belegt hatte.
Es war ebenso komisch wie unheimlich. Ich erschauderte und wollte doch lachen – ich war in jenem merkwürdigen Zustand, in dem man nicht weiß, ob man amüsiert ist oder Furcht empfindet. Doch in einem Punkt konnte kein Zweifel bestehen: So unerklärlich es auch schien, war doch nur zu offensichtlich, daß Mr. Milium diese zufällig zusammengetragene Sammlung von Müll als etwas ebenso Ernstes, und Dramatisches empfand wie Mr. M. – ja, er hatte die todernste Miene eines Mannes, der auf seinem Wege plötzlich eine Schlange entdeckt hat, die sich aufgerichtet hat zum Biß.
Mr. M. ließ sich nicht zweimal bitten, diesen Vorteil auszunutzen, mit welch obskuren Mitteln er ihn auch immer erzielt haben mochte.
»Behaupten Sie immer noch, es war Selbstmord?« rief er, beinahe im Ton eines Straßenräubers, der ruft: »Geld oder Leben!«
»Nein«, antwortete sein Gegenüber, »nein.«
Und damit fand er seine Stimme wieder, die nichts als ein heiseres Flüstern gewesen war, und sagte mit einer Ruhe und Festigkeit, die das Unheimlichste und am Ende das Überzeugendste an diesem seltsamen Drama waren: »Ich bin froh, daß Sie mich gestellt haben. Ich hätte es nicht mehr lange ertragen. Es schien das Richtige… mehr noch, das Unvermeidliche. Bis… bis es dann wirklich geschah. Und da begriff ich, daß es nichts half. Es war nur noch ein Fehler mehr. Nun, Sie haben es zu Ende gebracht. Und wenn ich nicht mehr bin, dann geht die Rechnung auf, nicht wahr?«
Mr. M. antwortete ebenso ruhig, nun ohne alles Dramatische, ja sogar ohne Nachdruck, sondern einfach wie ein Arbeitskollege, der an derselben Aufgabe sitzt. »Nein, gerade das ist der Punkt, an dem ich mir unsicher bin. Und gerade diese Frage ist es, an der mir im Laufe meines Lebens immer größere Zweifel gekommen sind. Wenn wir nun in dieser Angelegenheit einfach nur nach den herkömmlichen Regeln fortfahren, geschieht nichts weiter, als daß, ebenso wie Sie die Verantwortung dafür übernahmen, daß ein fremdes Leben zu Ende ging, ich meinerseits diese Art von sinnloser Kontrolle über das Ihre erlange. Das ist nicht das, was ich unter Ausgleich verstehe. Im Gegenteil, es bedeutet doch wohl im Grunde nur, daß es uns nicht gelungen ist, dem Eigentlichen Einhalt zu gebieten, das alles überfährt und uns alle in den Ruin treibt, nicht wahr? Wenn man bedenkt, daß es Sankey in seinen Klauen hatte, daß Sie dann Ihrerseits ihm verfielen, und Sie den Schaden gering halten und seinem Leben ein Ende machen wollten…?«
Er hielt inne, und es war offensichtlich, daß es als echte Frage an sein Gegenüber gemeint war. Und dieser antwortete ebenso kühl und gelassen.
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Das ist ohne Zweifel die Frage, um die es eigentlich geht. Aber auch wenn wir das einräumen, was sollen wir dann machen?«
»Zunächst einmal«, ergriff Mr. Mycroft wieder das Wort, während er in seiner üblichen ordentlichen Art inmitten dessen, was ich wohl ausgesprochen komplexe Verhandlungen nennen darf, die merkwürdigen Karten seines Tricks, der so überzeugend funktioniert hatte, zusammenräumte, »käme es darauf an, das >Warum?< zu kennen, nicht wahr? Wenn ich etwas über die Detektivarbeit gelernt habe, dann das. Auch wenn es oft nicht weiter schwer ist, hinter das >Wie?< zu kommen, ist unsere Wissenschaft, wie alle anderen auch, bedauernswert unvollkommen. Oft genug geht sie in die Irre, weil sie nicht über das >Wie?< hinauskommt zur Frage des >Warum?«<
Er hielt inne, dann änderte sich plötzlich sein Tonfall, er wurde scharf, klar und selbstsicher.
»Nun denn, wir wollen da beginnen, wo wir stehen. Zunächst einmal, was wissen wir?« Und statt auf eine Antwort Miliums zu warten, wandte sich Mr. M. zu diesem um, sah ihn geradewegs an und sagte, mit einer gewissen Leichtigkeit, aber doch mit Nachdruck auf dem letzten Wort: »Verstehen Sie, es gibt ja keinen Beweis!«
Milium blickte auf, doch Mr. M. fuhr bereits fort: »Vergessen Sie nicht, daß der Inspektor, der offiziell mit der Untersuchung betraut ist, seinen ersten Eindruck,
Weitere Kostenlose Bücher