Das Geheimnis der Haarnadel
recht«, gestand er großzügig ein; doch dann fügte er hinzu: »Wenn der Platz leer wäre, könnte man ihn kaum erkennen. Doch wenn sich etwas Weißes darauf befände, sagen wir: ein weißer Seidenanzug, dann wäre es so eindeutig wie der weiße Mittelpunkt auf einer dunkelgrünen Zielscheibe – eine ausgezeichnete Markierung.«
»Was Sie im Grunde sagen wollen«, entgegnete ich nicht ohne Heftigkeit, »ist doch, daß jemand hinauf zu jener Stelle des Daches gegangen ist, sich dort niederkniete und das Papiermesser mit einer solchen Wucht und Zielsicherheit warf, daß es dort unten genau ins Ziel traf – mitten in das Herz unter dem Seidenanzug! Doch nicht einmal der fähigste Messerwerfer mit einer perfekten Waffe würde auch nur erwägen, so etwas zu versuchen. Ich habe die Geschicklichkeit solcher Künstler auf Jahrmärkten gesehen. Es sind Könner, aber so etwas selbst bei dem Größten von ihnen für möglich zu halten, heißt nun wirklich den Bogen überspannen.«
»Und >Bogen< ist genau das Wort, das wir brauchen«, entgegnete er.
Doch auch jetzt hatte ich die Antwort parat. »Natürlich, nur ein Bogen könnte so etwas leisten, doch auch hier kenne ich mich leider aus, und meine Kenntnisse bestätigen Ihre cleveren Theorien nicht. Früher gehörte ich einmal einem Bogenschützen-Club an. Der Langbogen, der Stolz Englands, hat, das wissen Sie vielleicht nicht, eine Renaissance erfahren. Er ist nicht nur eine sehr elegante Waffe, sondern auch eine überaus kraftvolle. Ich habe es nie zu großer Meisterschaft gebracht, doch ich kannte Männer, die das Bogenschießen zur Kunst entwickelten und denen der Schuß, auf den Sie anspielen, zweifellos gelungen wäre. Doch ganz und gar nicht auf die Art, wie Sie es sich vorstellen. Und auch nicht mit der Waffe, die Sie vor Augen haben. Um einen Langbogen abzuschießen, muß man die richtige Haltung einnehmen.« Ich stellte mich in Positur, um es ihm zu zeigen. »Sehen Sie: der ganze Körper muß sich von der Hüfte bis zu den Schultern mitdrehen, wenn der Bogen gespannt und der Pfeil abgeschossen wird. Sie müssen also nicht nur aufrecht stehen und Bewegungsfreiheit haben, sondern für einen Bogen mit der erforderlichen Stärke und Spannweite – sagen wir fünf Fuß Länge (und das wäre das mindeste, was erforderlich gewesen wäre, mit ein paar hundert Pfund Zugkaft) – brauchen Sie auch den Ellenpfeil, der beinahe ebenso lang ist. Dieses erbärmliche Papiermesser, diese Nadel – na, der beste Bogenschütze der Welt könnte das nicht weiter als ein-zwei Ellen schießen, und selbst da könnte er nicht sicher sein, daß er tatsächlich das träfe, worauf er zielt.«
Dieser prachtvolle Gegenschlag wurde aufgefangen mit einem unnachgiebigen: »Wiederum richtig, soweit es Ihrem Wissensstand entspricht.«
Und dann, mit dem Anflug eines Lächelns: »Doch Engländer und Athlet, der Sie sind, haben Sie gewiß aus den Augen verloren, daß der Bogen keine rein britische Domäne ist. Die Menschen haben sich über die Probleme seiner Ballistik weiterhin Gedanken gemacht, lange nachdem da Langbogen aus der Mode gekommen war. Jawohl, es gab eine kontinuierliche Weiterentwicklung, die am Ende vom Bogen zur Arkebuse führte – ja, selbst das Wort entstammt derselben Wurzel.
Die Soldaten wünschten sich schon immer eine wissenschaftlichere, weniger künstlerische Waffe – eine, die genaues Zielen ermöglichte, eine eindeutige Visierlinie, nicht einfach nur einen Schuß ins Blaue, und sie wollten mehr Durchschlagskraft. Sie schöpften die Elastizität des Holzes bis ins letzte aus und gingen dann zu Stahl über. Doch da stießen sie auf ein Hindernis, die Grenzen der menschlichen Muskelkraft. Sie werden sich an den Bogen des Ulysses (wenn wir den Namen Odysseus für den Augenblick meiden wollen) erinnern, den keiner der Freier spannen konnte? Das war ein Schritt auf dem Wege zum kompakten Stahlbogen. Wir wissen, daß es sich nicht um einen Langbogen handelte. Seine große Stärke verdankte er der Tatsache, daß er nicht aus Holz bestand, sondern aus den Hörnern einer bestimmten wilden Ziegenart. Doch selbst Ulysses hätte einen stählernen Bogen nicht spannen können. Also verwendete man einen Zahnradmechanismus, um die Sehne zu spannen, und dazu brauchte man Schaft und Lauf, auf denen der Bogen befestigt und gespannt werden konnte. Dann wurde in diesen Schaft eine Rille gekerbt, in der der Pfeil liegen konnte.
Es braucht Sie nicht zu überraschen, daß Sie die Schlagkraft
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